Der kleine Onkel (der Denker am Museum )

Franzsoldat mit Fenster

Mit der ganzen Wünscherei ist das so eine Sache. Etwas, was man sehnlichst begehrt und als das höchste Glück erscheint, kann morgen schon eine Last sein, von der man sich am liebsten befreien möchte.
Da lebte vor nahezu 200 Jahren in Dornberg der stramme Max, ein kräftiger, gesunder Bauernbursche. Nun war das aber die Zeit, als Deppendorf und Werther, Schildesche und Dornberg zum französischen Kaiserreich gehörten, während Bielefeld vom König Lustig regiert wurde. Der, und sein kaiserlicher Bruder Napoleon belasteten durch ihre Feldzüge und ihre Verschwendungssucht die Bevölkerung nicht nur mit riesigen Steuerabgaben, sondern forderten auch von den Söhnen des Landes, im französischen Heer zu dienen. Wer sich weigerte, wurde ins Gefängnis gesperrt.

Nun sollte also auch Max unter die Soldaten. Da dieser aber weder ins Schlachtgetümmel noch hinter Gitter wollte, schlich er sich nachts heimlich zu einem Spötekieker. “Sagt, könnt Ihr sehen, was aus mir wird?” fragte er bange. Der Seher drehte sein Gesicht ganz nach innen, strich dann dem Burschen 3 x übers Haupt und murmelte:

“Mal groß, mal klein, so wird es sein,
mal klein, mal groß, so ist Dein Los!”

Dann sagte er ein Zauberwort und warf dem Max einen Schrumpfmantel über. Als nun die Sonne aufging, da war aus dem starken Bauernburschen ein kleines, dürres Büblein geworden, und die Armee wähnte ihn einen Schuljungen, der zum Kriegsdienst noch nicht taugte.

Der Denker Max

Doch ach, Max hatte das Zauberwort vergessen und blieb so klein sein Leben lang. Auch seine Kinder und Kindeskinder erreichten nie die ehemals stattliche Größe ihres Ahns und grämten sich darob sehr. Der letzte Nachfahr, der Herr Klein, war Museumswärter in der Bielefelder Kunsthalle. Voller Spott wurde er von allen nur “kleiner Onkel” genannt.

Und wenn er mit seinen dünnen Beinchen durch die Säle stelzte und mit Lispelstimme die Sehenswürdig-keiten erklärte, meinten manche Besucher, er sei eine Art Roboter und gehöre zur Ausstellung. So war sein heißester Wunsch, groß und stark zu sein. Da träumte ihm eines nachts, der Spötekieker trete an sein Bett, werfe ein Tuch über ihn und raune:

“Kleiner Onkel hör’ mir zu, der Franzmann raubte Eure Ruh”.
Das Zauberwort es heißt “NIDOR”, behalt es gut im deutschen Ohr,
denn wenn dein Ich Dir nicht gefällt, benutz das Wort nur umgestellt.”

Noch trunken im Schlaf kam dem kleinen Onkel das seltsam fremde Wort über die Lippen “Rodin”. Doch kaum hatte er es ausgesprochen, war es aus seinem Gedächt-nis gelöscht. Da er aber ohne lebendiges Bewusstsein gemurmelt hatte, war er zwar groß und kraftvoll geworden, aber in ein starres, steinernes Wesen verwandelt.
Nun sitzt er vor dem Museum und denkt und denkt über das verlorene Zauberwort nach.

Denker nvor Museum

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