Die rote Schatulle. (die “hillige Seele” bei Paderborn)

Schatull Tittel

Es war einmal ein stolzer Kaufmann aus edlem Geblüt, der war durch den Leinenhandel in Bielefeld sehr reich geworden. Das gute Bielefelder Leinen wurde weit über die Landesgrenzen hinaus hoch geschätzt, und es gab Geschäftsbeziehungen bis nach Novgorod. Doch er lebte bescheiden und achtete seine Freunde und seine Feinde. Er trauerte um seinen verlorenen Sohn. Dieser hatte sich in seiner ungestümen Jugendzeit in Rosa verliebt, das hübschen Töchterchen eines armen Webers. “Mein Röschen”, nannte er sie und war glücklich. Sie hatte blonde, lange Locken und einen Mund zum Küssen, und ihre Augen leuchteten in der Farbe des Sommerhimmels. Und so kam es, daß auch ein kleiner Junge mit blonden Locken und strahlend blauen Augen das Licht der Welt erblickte. Rosa hatte ihm den Namen “Johann” gegeben, das bedeutete “eine Gnade des Herrn”. Doch der Jüngling wußte nicht davon. Er war auf Wunsch seines Vaters fortgezogen in die weite Welt, um die Wissenschaften zu studieren, damit er später mit Klugheit diesem zur Seite stehen möge, doch er kehrte nie zurück. Ehe er fortging, hatte er jedoch heimlich ein kleines Briefchen in die rote Schatulle gesteckt, in der der Vater wichtige Papiere aufbewahrte.

Rosa aber packte ihr Bündel, verließ ihr Elternhaus und verdingte sich als Magd bei dem Müller im Holter Wiesengrund. Der Knabe wuchs bei den Großeltern auf, denn Rosa hatte kein Dach und kein Brot für ihn.

Wassermühle doppelt mit Frau

Schatull Holter Wassermühle Titel

Die Jahre gingen dahin wie die Tage und die Stunden mit schwerer Arbeit und Trübsal. In der Ferne sah sie die vier Weiden, die wie sie, gebeugt vom Schicksal, dem Leben trotzten.

vier Weiden

Sonntags nach dem Kirchgang ging sie oft den Wiesengrund entlang bis hin zur tausendjähriger Eiche. Sie setzte sich in ihren Schatten und weinte. In ihrem geteilten Stamm sah sie sich selbst, getrennt von ihrem Kind, getrennt von dem Geliebten, einsam und unglücklich.

Tausendj Schatull Eiche

Und sie dachte an den Tag, an dem sie einmal als Kind von Ihrem Vater zu dem Edelmann geschickt worden war, um eine Nachricht zu überbringen. Sie bestaunte das hohe Haus mit dem großen Tor und den mächtigen Mauern, das einmal ein Gutshaus gewesen war. Sie bewunderte die schweren, alten Möbel, und am meisten schaute sie neugierig auf die kunstvolle Schatulle, die auf dem Sockel stand. Keck fragte sie, was denn dadrinnen sei, und der alte Herr sagte: “Da ist meine Familie drin”. Ein Satz, der ihr nie aus dem Sinn ging.

Die Sattelhöfe in der Gegend hier, die sogenannten “Lindbikehöfe” gehen zum Teil auf die karolinische Zeit zurück. Im 14.Jahrhundert hatte dann der Graf von Rietberg eine Wehrburg errichtet, “das Haus Holte”. 200 Jahre später wurde es völlig zerstört, und 1616 errichtete Graf Johann III. den heutigen Renaissancebau, das Jagdschloß Holte.

Schloß Holte gut

Jagdschloß Holte

Einmal war auch Rosa zum Schloß gegangen, zum “Pollhans”. Aber der bunte, laute Trubel auf dem Jahrmarkt mit seinen vielen Menschen machte ihr Angst. Sie war den stillen Alltag in der Mühle gewöhnt, und so verlief ihr Leben.
Ihr Vater war früh verstorben, und seine einzige Hinterlassenschaft, war der alte Webstuhl. Die Mutter hatte den heranwachsenden Jungen auf einen großen Meyerhof gegeben. Dort lebte er nun als Jungknecht und half im Pferdestall. Die Arbeitstage waren lang und schwer. Oft saß er abends am Bach, stippte mit seinen Zehen kleine Kreise ins Wasser und sah zu, wie die Ringe sich ausbreiteten.

Wassermühle Heepen mit Jungen

Meyer zu Heepen Titel

Er wollte hinaus in die weite Welt , wollte lernen , wollte leben. Er sprach mit seinen Pferden, denn es waren die einzigen, die ihm zuhörten, er streichelte ihre weichen Nüstern und flüsterte: “Tragt mich hinweg, weit weg, gebt mir Flügel.” Doch Flügel wuchsen ihm nicht.
Dann wurde er im Meyerhof nicht mehr gebraucht. Seiner Mutter ging es schlecht, sie litt zunehmend an der Brustenge und verlor ebenfalls ihre Stellung beim Müller. Und so blieb ihm keine andere Wahl, als sich an den alten Webstuhl zu setzen und mühsam das Leinen zu weben. Es ernährte Mutter und Sohn, doch die Not war Gast im Hause.

Auch der Edelmann gewahrte, daß sein Leben sich dem Ende zuneigte. Er saß einsam in seinem großen Haus und dachte betrübt, daß mit ihm eine lange Ahnenreihe erlösche. Er hatte gehört, daß man in der alten Sachsensiedlung “Eilhardinghausen” vor langer Zeit eine kleine Kapelle errichtet hatte, zur Erinnerung an einen Studenten, den man auf dem Heimweg zu seinem Elternhaus hier an diesem Ort meuchlings gemordet hatte. Keiner wußte, wie sein Name, wie seine Herkunft. Und so war er “die Hillige Seele” benannt worden, und so hieß nun auch die Kapelle. Man sagte, daß sich hier Wunder ereignen.

Kapelle zur Hilligen Seele neu Ausschnitt

“Ob so wohl auch mein lieber Sohn sein Leben verloren hat?” dachte er bei sich und beschloß, zu der kleinen Kapelle zu fahren, die 772 von einem Abt aus Holz errichtet worden war und 300 Jahre später in Stein gebaut wurde, so, wie sie noch heute steht. Dort wollte er beten, für den Unbekannten und für seinen eigenen Sohn.
Er gebot dem Kutscher anzuspannen, nahm seine Schatulle mit und machte sich auf nach Dörenhagen über den alten Pilgerweg, der von Hamburg nach Mainz führt. Als er zum letzten Mal die Urkunden und Dokumente seiner Familie anschaute, fand er zuunterst das Briefchen. Erstaunt öffnete er es und las in der Schrift seines Sohnes des Wort “Röschen”. Darunter klebte ein gepreßtes Heckenröslein. “Ei,” dachte er, “ich weiß nicht, wer Du bist, aber wenn Du bei unseren Ahnen liegst, dann sollst du auch zu uns gehören.”

hilligen-seele-Kapelle

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Couvert gutEr schaufelte unter der großen Linde ein Loch, legte die Schatulle hinein und pflanzte auf dem Hügel einen Rosenstock. Dann trat er in die Kapelle und sprach zum Abt: “Dort unter der Linde liegt meine Familie und das Röschen, betet für sie.” Und es breitete sich eine große Ruhe in ihm aus. So fuhr er zurück und bald darauf starb er in Frieden.

Wie in jedem Jahr machte Johann am Sonntag nach dem Hochfest des heiligen Johannes zusammen mit vielen Gläubigen seine Pilgerfahrt zur Hilligen Seele. Als er vor der Linde stand, wunderte er sich über den Rosenbusch, der da auf einmal blühte, und er fragte den Abt. “Ja, sagte dieser, “das war seltsam. Es kam ein vornehmer alter Herr zu mir und sagte, er habe dort seine Familie zur Ruhe gebettet und auch das Röschen, ich soll für sie beten.”

Dem Johann ging diese Geschichte im Kopf herum. Hatte nicht seine Mutter ihm, als er noch ein Kind war, von einem Liebsten erzählt, der sie stets “Röschen” genannt hatte? Und außerdem, man durfte doch nicht einfach Verstorbene ohne kirchlichen und amtlichen Beistand irgendwo vergraben. Als er wieder zuhause war, ging er zum Richter und erzählte ihm das. Dieser wandte sich an das Gericht in Paderborn und erbat Amtshilfe. Die schickten drei Landjäger mit Spaten bewaffnet zur Linde und hervor kam die rote Schatulle. Von Amts wegen wurde nun festgestellt, daß Röschen die Mutter von Johann und dieser der Enkel des Verstorbenen sei und damit sein rechtmäßiger Erbe.
Mutter und Sohn zogen in das große Haus, das Rosa als Kind so bewundert hatte. Johann konnte nun auch einen Arzt für diese bezahlen.

Doch seine größte Freude war, daß er jetzt auch wagen konnte, das Mädchen, das er schon lange verehrte, um seine Hand zu bitten. So wird die alte Schatulle weitere Papiere in ihrem Bauch bewahren können, denn die Familie wird weiterleben.

Schatulle hof

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