Der alte Küster (Die Kirche in der Hermanstraße)

Alter Küster

An der Ecke Hermannstraße – Turnerstraße stand früher ein altes Kirchlein. Es war aus roten Ziegelsteinen gebaut, und an der Rückseite hatte es Fenster mit weißen Tüllgardinen und Geranienstöcken. Dort wohnte der alte Küster. Jahrzehntelang hatte er die Glocken geläutet und am Sonntag die Gesangbücher ausgeteilt. Er hatte Gebrechliches geholfen, wenn sie mit dem Rollstuhl zur Andacht kamen, und er hatte darauf geachtet, dass die Kinder im Gottesdienst nicht zuviel Unfug trieben. Kurz, er hatte für Ordnung gesorgt in seiner Kirche. So war es die ganze Zeit gewesen, und darüber war er alt geworden.

Aber eines Tages kam die Nachricht, dass im Stadtrat beschlossen worden war, die Kirche abzureisen, und auf der Ecke ein großes Parkhaus zu bauen. Schon bald kam auch ein mächtiger Bagger, und das kleine Kirchlein war in einer Stunde dem Erdboden gleich gemacht. Auf dem Trümmerhaufen obenauf lagen die zerbrochenen Geranientöpfchen, ein weißer Schleier Gardinenrest flatterte über sie hinweg.
Den alten Küster hatte man in Rente geschickt und ihm eine Wohnung am Stadtrand in Baumheide zugewiesen. Da saß er in einem großen Wohnblock, keiner kannte ihn, und er kannte keinen. Er fühlte sich sehr unglücklich, und bald darauf starb er.

Auf dem leeren Eckgrundstück begann nun rege Bautätigkeit. Riesengroße Kräne und Betonmischer machten den ganzen Tag über Krach. Der Verkehr musste umgeleitet werden, die Leute schimpften, und nach einem Jahr war endlich das große Parkhaus fertig.

Doch nun geschah etwas Seltsames. Keiner wollte sein Auto darin parken. Und die wenigen, die es doch taten, wagten es nicht zum zweitenmal. Sollte man doch meinen, die Leute seien erfreut über so eine citynahe Parkmöglichkeit. Doch nein, das große, teure Gebäude blieb leer. Der Bürgermeister ärgerte sich darüber und wollte wissen, warum das denn so sei.

Alter Küster 2

So fuhr er eines Tages selbst dort hin, um sein Auto zu parken. Als er es nach kurzer Zeit abholen wollte, traute er seinen Au-gen nicht, auf dem Kühler lag ein Gesangbuch, doch als er es greifen wollte, löste es sich in Luft auf!!!

Kopfschüttelnd fuhr er nach Hause. Es ließ ihm jedoch keine Ruhe, und so war er am nächsten Tag wieder in dem Gebäude. Diesmal hörte er ganz deutlich jemanden einen Choral singen. Ihm wurde ganz unheimlich zumute, denn es war niemand zu sehen, und so fuhr er schnell aus dem Tor. Als er aber nun am dritten Tag wiederkam, sah er in allen Parknischen Kirchenbänke stehen, und auf der letzten Bank in der äußersten Ecke saß der alte Küster. Da wusste der Bürgermeister auf einmal, warum die Leute nicht ins Parkhaus fuhren. Sie fürchteten sich. Er fasste sich ein Herz, ging durch die Reihe der Bänke zum Küster und sprach: “Sag an, warum findet du keine Ruhe?” Und der antwortete: “Wie soll ich Ruhe finden, wenn da, wo die Gebete vieler Menschen noch in der Luft schweben auf einmal Autogase verpuffen und Stahl und Beton die Blumen mordet.” Kaum hatte er das gesagt, stand der Bürgermeister allein da, die Bänke und der alte Mann waren spurlos verschwunden.

Lange dachte der Bürgermeister nach und beriet sich mit seinen Ratsherren. Dann beauftragte er einen Architekten, große Ventilatoren einzubauen, damit die Luft sauber würde. Trotzdem kamen keine Parker. Als nächstes ließ er einen Trupp Maler das Ganze in hellen Farben anstreichen, diese übten sich dann noch in moderner Kunst und verzierten die Wände mit bunten Punkten und seltsamen Figuren. Aber auch das nützte nichts. Der Küster vertrieb weiter die Parker, und die Stadt hatte keine Einnahmen durch Parkgebühren. Endlich ging der Bürgermeister zu einem Gärtner. Der kam mit vielen Gehilfen, und sie setzten 27 Weinpflänzchen. Diese rankten bald am Beton und Stahl empor, und alles fing an zu grünen und zu blühen. Auf einmal sah die Ecke wieder freundlich aus. Als dann noch ein kleiner berankter Pavillon aufgestellt wurde, war der alte Küster endlich erlöst.

Neulich habe ich gesehen, dass links neben der Einfahrt ein kleine Geranie blüht. Und wenn man genau hinhört, kann man in manchen Nächten leises Glockengeläut hören.

Alter Küster 3

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