Der doppelte Moritz (Abenteuer im Rats.)

Ratsgymnasium

Moritz war ein hochaufgeschossener blonder Bursche mit vielen Pickeln und vielen Sommersprossen im Gesicht. Er war zwölf Jahre alt und ging in die Quinta des Ratsgymnasiums. Eines Morgens saß er in seiner Klasse und döste so vor sich hin. Es wurde gerade Geschichte gelehrt, und der Dreißigjährige Krieg interessierte ihn nicht sehr. Da rief ihn auf einmal der Lehrer auf: “Moritz, hier ist es so kalt, geh’ doch eimmal zum Hausmeister und sage, er solle die Heizung nachsehen.” Moritz war erfreut über die Unterbrechung und machte sich auf die Socken. Er hatte es nicht gerade eilig, und als er den Hausmeister in seinem Zimmer nicht antraf, ging er ihn in aller Ruhe suchen. Er stieg in den Keller hinab und machte die schwere Holztüre auf. Er war in einem großen Raum mit vielen Regalen. Darin stapelten sich alte Akten, verstaubte Bücher, abgeheftete Aufsätze, die vielleicht einmal besonders interessant gewesen waren, und meterweise Verordnungsblätter. Alles sehr langweilig. Dann sah er eine weitere Tür und ging hindurch. Hier gab es eine Ecke mit zerbrochenen Stühlen und alten Pulten, Tafeln, die man längst nicht mehr gebrauchen konnte, Klassenschränke, deren Türen kaputt waren, und Papierkörbe. Also auch wieder schrecklich langweilige Dinge. Und durch eine weitere Türe kam er schließlich in einen Gang, der leer schien, nur in einer Nische lagen noch ein paar Backsteine herum und ein halber Sack alter Zement.

Aber! Was war denn das? Da schien ja noch eine Türe gewesen zu sein. Vorsichtig rüttelte Moritz an den Mauersteinen. Und sie gaben nach, und er konnte sie einzeln herausbrechen. Eine Eisentüre war dahinter, ganz verstaubt und verrostet. Er benutze eine herumliegende, lange Eisenstange, und – der Riegel bewegte sich. Es gelang ihm, die Tür zu öffnen. Drei bröckelige Srufen führten hinunter, und es herrschte totale Finsternis. Von der Decke hingen, wie Gardinen, lange Spinnwebfäden herab, die ihm ins Gesicht kitzelten, brrrrr! Moritz wurde es unheimich. Da erinnerte er sich, daß er an seinem Schlüsselbund eine winzig kleine Taschenlampe hatte, die man benutzt, um das Schlüsselloch zu finden. Er knipste sie an, und in dem schwachen Lichtschein bemerkte er in einer Ecke eine alte Truhe.

Gewölbekeller 2

Er hatte noch die Eisenstange in der Hand und konnte mit ihrer Hilfe den -schweren Deckel aufhebeln. Alte Hakenbüchsen waren darin und verrostete Spieße. Auf einmal erklang eine schaurige Melodie, und die Uhr von der Altstädter Kirche begann 12 Uhr Mittag zu schlagen. Da, ein Kanonendonner!! Moritz erschrak fürchterlich. Was war denn das, es war doch heller Mittag. Geisterstunde ist doch um Mitternacht. Richtig, aber das stimmt nur für Erwachsene, die Kindergeister geistern um Mittag, denn nachts müssen sie in ihre Betten und schlafen, wie alle anderen Kinder auch. “Tach”, rief es. Vor ihm stand ein Junge, genauso alt wie er selbst, mit den gleichen Sommersprossen und den gleichen Pickeln, aber er war leichenblaß.

Doppelter Moritz auf Kellertreppe

Wer bist du”, fragte Moritz. “Ich bin der Moritz”, antwortete der Geist. “Was machst du hier?” >ja, ich hab doch hier gewohnt, hier ist das Waisenhaus, aber seitdem wir dauernd die fremden Heere in der Stadt haben, benutzen sie es als Waffenkammer. Im Keller liegen’ die Hakenbüchsen, die Spieße und die Gewehre, und unser Rottmeister hat mich geschickt, um drei Sturmhauben zu holen. Weißt du, erst haben die Holländer unsere Sparrenburg besetzt, dann die Spanier, und nun heißt es, auch die Brandenburger wollen noch in die Stadt. Komm’ doch mit mir, wir brauchen noch eine Wache am Tor. ” Und ehe sich unser Moritz versehen hatte, steckte er in einer weiten Landsknechtshose und hatte einen bunten Hut auf. Der Leutnant schrieb ihn als neuen Zugang in seinem Regiment ein, und der Pfennigsmeister gab ihm einen Gulden Wochensold. Dann mußte er, als der Torhüter gerade seinen Rausch im Wachhäuschen ausschlief, am Stadttor stehen und aufpassen, daß niemand unrechtmäßig in die Stadt kam. Es waren aber nur ein paar alte Frauen mit einem Karren voller Hökerkram, die Einlaß begehrten und die er ungehindert durchs Tor ließ.

Stadttor 3

Kaum war jedoch die Dämmerung hereingebrochen, warfen die Frauen ihre Röcke und Blusen ab, es waren feindliche Soldaten. Sofort öffneten sie von innen die Tore, und herein kamen in großen Scharen die Brandenburger. Sie besetzten alle Bürgerhäuser der Stadt und raubten und plünderten. Den größten Frevel richteten sie auf der Bleiche an. Sie stahlen alles Leinen, was dort auslag, verkauften es an die Franzosen und es entstand schrecklicher Schaden. Moritz hatten sie gefangengenommen und ins Verlies nach Herford gesteckt.
Wo aber war denn unser Waisenjunge geblieben? Nun, er kannte sich ja in dem alten Greteschen Hof, der jetzt das Gymnasium ist, gut aus. So hatte er sich versteckt, denn er war des Kriegstrubels leid gewesen.
Oben in der Klasse suchte man Moritz. Wo blieb er nur so lange? Längst hatte der Hausmeister die Heizung repariert, aber Moritz kam nicht wieder zum Vorschein. Schließlich ordnete der Geschichtslehrer eine große Suche an, und die ganze Klasse schwirrte im Gebäude umher. Moritz war in keinem Zimmer, auch auf dem Dachboden suchten sie vergeblich. Aber endlich entdeckte einer den geheimen Gang im Keller, und sie fanden einen jungen, der, anscheinend betäubt von der schlechten, modrigen Luft, vor einer Truhe auf der Erde lag. “Moritz, was ist mit dir los, du bist ja ganz bleich?” Der Lehrer ließ einen Krankenwagen kommen und brachte den falschen Moritz ins Krankenhaus.
So verging die Nacht und der nächste Vormittag. Aber als die Glocke wieder 12 Uhr schlug, da war der falsche Moritz plötzlich aus dem Krankenhaus verschwunden. Der Chefarzt rief ganz aufgeregt in der Schule an, aber da tat sich die Klassentür auf, und der richtige Moritz kam herein. “Nanu, bist du aus dem Krankenhaus ausgerissen?” “Nein”, antwortete Moritz, “aus dem Verlies.” “Na, so schlimm ist ein Krankenhaus ja nun wirklich nicht, daß man es mit einem Gefängnis vergleicht”, antwortete der Lehrer gutmütig. “Nun setz’ dich hin, wir sind gerade dabei zu wiederholen, was wir über den Dreißigjährigen Krieg gelernt haben. Paß gut auf, du hast ja gestern gefehlt.”

Aber was Moritz über den Dreißigjährigen Krieg gelernt hatte, das erzählte er niemandem, es hätte ihm ja doch keiner geglaubt.

Klassenzimmer 2

Sophokles0001
p.s. Neulich war ich zur Abiturfeier meiner Enkelin. Da bin ich doch im Trep-penhaus Sophokles begegnet. Er wanderte mal wieder durchs Gebäude. Ich erzählte ihm, daß es neuerdings Bestrebungen gibt, die Gymnasien abzuschaffen. Da strich er sich bedächtig seinen Bart und sagt nur:

“Errare humanus est,

es irrt der Mensch, auch wenn er Politiker ist. “

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