Der alte Grafenhof
Es stand in alten Zeiten der Grafenhof hier noch
mit Fenstern im Gewölbe, so schmal und himmelhoch,
mit trutzig festen Mauern, gefügt wohl meterdick.
Dort leiteten die Herren der jungen Stadt Geschick.
Von Menschenhand erbaut, von Menschenhand zerstört,
kein Auge mehr ihn schaut, kein Ohr mehr von ihm hört.
Vor langer, langer Zeit durchstreifte Hermann, ein junger Graf, unsere Lande. Von seiner Burg aus waren ihm drei Raben gefolgt. Plötzlich umkreisten diese einen Berg und setzten sich darauf nieder.Ei«, dachte der Graf, hier müßte es gut sein, eine Stadt zu gründen. Die Gegend war reich bewaldet, nur einzelne Hofstellen lagen zwischen dem Gehrenberg und dem Waldhof, die die größte davon war. Auch kreuzten sich hier die Handelswege in glücklicher Weise. Der Hellweg führte über Paderborn nach Goslar, und der Paß durch den Osning öffnete den Weg nach Norden. Und wie der junge Graf so stand und sann, da krächzten auf einmal die Raben:
Gründe eine Stadt und gestalte,
baue eine Burg und erhalte
setze einen Hof und verwalte.
Aber hüte dich vor dem zweiten Sänger!
Und so gebot der Graf an den Ufern des Bohnenbaches eine Stadt zu erbauen. Er ließ den Muschelkalk des Teuto zu Quadern brechen und eine Burg daraus aufrichten, und endlich wuchs im Inneren der neuen Stadt, etwa da, wo heute das Leineweberdenkmal steht, ein stattliches Haus in dem er Hof hielt. Man nannte es den »Grafenhof«.
Hermann verstand es, Kaufleute für die Mitgründung der Stadt zu gewinnen und gab ihnen Ämter und für einen Wortzins (Wort = Grundstück) Hausplätze zu eigen.
Er regierte weise, scharte ein munteres Völklein um sich, und da er auch dem Spiel und dem Tanz zugeneigt war, stand sogar eine Kapelle in seinen Diensten. Eines Tages nun klopfte ein fahrender Sänger ans Hoftor. Der junge, stattliche Mann war gekleidet nach der neuester Mode mit Gugel und Schecke, so eine Art Kragen mit Kapuze. Es war der vielgeliebte Barde Frauenlob. Er entzückte nicht nur die Gräfin und ihre Jungfern mit seinen lieblichen Minneliedern, sondern war auch so weise, sich der Gunst des Grafen zu versichern mit Lobgesängen ob dessen Klugheit und Güte.
Die drei Raben auf dem Berg sahen den Gang der Dinge mit Wohlgefallen und wachten über den Grafenhof. Die Bürger aber, die die Vögel so stetig und friedfertig sitzen sahen, munkelten, es seien die Ahnen des Grafengeschlechts, die behütend ihre Nachfahren durch den Wandel der Zeiten begleiteten und zogen darob ehrerbietig den Hut vor ihnen.
So vergingen viele Jahre.
Da klopfte an einem dämmrigen, naßkalten Herbsttag wiederum ein Sänger an die Türe und bat um Einlaß. Freudig wollten die Mägde öffnen in Erwartung einer fidelen Unterhaltung. Doch da hörten sie auf einmal die Raben gar kummervoll krächzen:
Lasset ihn draus, lasset ihn draus
bringt Graus ins Haus,
über die Schwelle zieht der Geselle
Unglück schnelle!
Doch die Mädchen lachten, mißachteten die Warnung und ließen den Fremdling ein. Ach, wie erschraken sie bei seinem Anblick! Es war der böse Mannestrutz. Mit der seitlich geknöpften schwarzen Heuke, einem altmodischen langen Umhang, verdeckte er halb sein grimmiges, zerfurchtes Gesicht, und, krumm hereingehinkt, heischte er barsch einen Humpen Wein und einen zweiten und einen dritten. Dann drang er grölend in die Gemächer des gräflichen Paares und bot ihnen unflätige Gassenhauer dar.
als der alte Graf ihn deshalb des Hoffes verwies, stieß Mannestrutz einen Fluch aus:
Freude weich aus eurem Leben, Streit und Hader soll es geben, dieses Haus es soll verwehn, das Geschlecht soll untergehn!
Kaum waren die letzten Worte verklungen, stieg ein beißender Rauch auf, und der Mann war wie ein Spuk verschwunden. Schreckensbleich standen die also Bedrohten, doch noch entsetzter waren sie, als sie gewahr wurden, daß auch die drei Raben nicht mehr auf ihrem Berg hockten. Man fand dort noch drei Häufchen Asche und ein winziges, halbgeschmolzenes Krönchen.
Von da ab hatte das Glück das Grafenhaus verlassen. Es gab Streit mii den älteren Orten um Jagdgründe und Viehweiden. Auch verlangte die Stadt nun Zoll auf Waren, die durch ihre Grenzen befördert wurden. Das erboste die Nachbarn derart, daß ein Haufen zorniger Männer mit Äxten, Schleudern und Fackeln gen Bielefeld zog und dort große Verwüstungen anrichtete. Sie fällten alle Eichenbäume und ließen die Palisaden toppen. Sie quälten Frauen und Kinder und legten Brand an die Kirchen. Dem Grafengeschlecht wurde kein männlicher Nachfolger mehr geboren, und der Stamm derer zu Ravensberg verdorrte. Durch die Ehe der letzten Grafentochter kam das Land unter fremde Herrschaft, und endlose Erbstreitigkeiten zogen sich durch die Geschichte. Der Grafenhof verödete. Eine Zeitlang diente er gar als Schweinestall, und das Gequike und der Gestank der Tiere verbreitete sich über die ganze Stadt. Später hatten ihn Bürgerliche wieder genutzt. Doch im letzten Krieg wurde er – das älteste steinerne Haus von Bielefeld – ein Opfer der Bomben, und keiner weiß mehr von ihm!