Spintili .(Ein Spinnmärchen)
Vor weiland langer Zeit herrschte in unseren Landen ein hochÂherziger Graf. Der versuchte nicht, wie viele andere es taten, sein eigenes Säckel zu füllen, nein, er mühte sich um seine LandeskinÂder und hatte für jedermanns Nöte ein offenes Ohr. Besonders am Herzen lagen ihm die Heuerlinge in den armen Spinn- und Weberdörfern rund um die Stadt. Schon seit Jahrhunderten surrÂte in jedem Hof und in jedem Kotten im Winter das Spinnrad. Bevorzugt waren die, die gar einen Webstuhl ihr eigen nennen konnten. Wer nun mit Fleiß und Mühe sein Tagewerk vollbracht, gesponnen und gewebt hatte, konnte Garn und Tuch dem Höker anvertrauen, damit der die Ware auf dem Engermein – so nannte man damals den Oktobermarkt – verkaufen möge. Aber kümÂmerlich war das Leben der armen Weber- und Spinnerfamilien. Und so verkündete der gnädige Landesherr: »Warum sollen unÂsere Weber das hier gesponnene Garn erst wieder in Antwerpen oder Frankfurt kaufen müssen. Sollen sie sich doch mit den SpinÂnern des Sonntags, wenn sie in den Kirchdörfern zusammentrefÂfen, über einen Handel einigen. Vor allem aber sollen unsere BauÂern selbst Flachs anbauen, dann brauchen wir diesen nicht teuer von den Holländern zu erwerben.« So kam es, daß es in Bielefeld bald ein Gewerbe mit dem Leinen gab.
Nun hatte der Graf aber eine törichte Frau. Sie war über alle Maßen putzsüchtig und eitel. Das Leinen allerdings schätzte sie sehr gering. Sie kleidete sich nur in Samt und Seide. Und wenn sie von der Burg herunter in die Stadt ritt, so forderte sie von allen Bürgern, daß sie sich vor ihr verneigen und Wohlgefallen über ihr Äußeres kundtun sollten. Sie heischte Anerkennung und gierte nach Lob. Und so schallte es bei ihrem Nahen durch alle Gassen: »Seht nur, unsere Gräfin, wie schön sie ist, wie edel sie sich kleidet, ahhhh!« Aber sowie sie ihnen den Rücken gekehrt hatte, raunten sie: »Seht nur, die Alte, spinnen tut sie nicht, dazu ist sie zu fein, aber sie spinnt!!!« Und dann lachten sie voller Hähme. Nein, das Spinnrad rührte die Gräfin in der Tat nicht an. Es deuchte sie unter ihrem Stand. Aber die Mägde und sogar ihr schönes Töchterlein drehten emsig das Rad. Wollten sie sich doch eine solide Aussteuer schaffen.
Da geschah es nun, daß die Gräfin eines Nachts in die KemeÂnate ihrer Tochter ging, weil sie dort einen Krug vergessen hatte. Und da sah sie es: Auf dem Tisch in dem Napf mit dem Honig greinte und wimmerte ein klapperdürres Etwas: »Hilfe, Hiiiiilfe, holt mich hier raus, holt mich doch bitte, bitte, bitte hier raus.«
Es war Spinntili, das Spinngeistlein. Spinntili gehörte zu der großen Familie der Tuchgeister. Es war der jüngste Sohn der Leinenmuhme und der kleine Bruder der Webjungfer. Es war ein etwas leichtsinniges Bürschlein, das lieber ein Liedchen pfiff, als den Faden zu drallen. Bei der Arbeit schickte es häufig seine Gedanken auf die Reise, so daß das Garn Knötchen bildete oder gar riß. Nun war es nächtens vom Rocken hinab auf das Rad geÂhüpft, hatte so viel Schwung bekommen, daß es herunterpurzelte, geradewegs hinein in die Honigschüssel. Und so sehr es nun auch hampelte und strampelte, es kam nicht los, es steckte fest. Gar jämmerlich jaulte und jammerte es. Doch die spinnendünnen Beinchen und Ärmchen waren wie mit Pech verleimt.Wenn nun die Gräfin zwar sehr gefallsüchtig war, so war sie doch nicht hartherzig. Sie befreite das kleine Etwas und steckte es sorgsam in die Badeschüssel, säuberte es von der klebrigen Masse und salbte sogar den kleinen Körper. Husch, husch, war das Wesen plötzlich verschwunden.
Die Leinenfamilie war froh, daß das Abenteuer ihres jüngsten Sprosses so glimpflich ausgegangen war, und die Muhme sagte: »Spinntili, geh’ zur Gräfin und schenk’ ihr zum Dank drei WünÂsche.« Und also geschah es.
Die Gräfin hatte aber nur ihren Putz und ihre Kleider im SinÂne. Endlich konnte sie noch einmal viel, viel schöner als die anÂderen aussehen. Und weil in den nächsten Tagen ein großer Ball stattfinden sollte, da wünschte sie: »Ich möchte ein Kleid aus lauter Rosen!«
Spinntili sammelte Tausende von Rosenblättern, und er fertigÂte daraus ein Gewand schöner als alle Gärten des Landes zusammen. Die Gräfin war hocherfreut, und als sie den Ballsaal betrat, zollten ihr alle wie stets die höchste Bewunderung. Als aber der Abend vorrückte, da welkten die zarten Blätter. Sie wurden grau und verhutzelt. Aber auch die Gräfin sah plötzlich ganz grau und verhutzelt aus. Alle Zeigefinger schienen sich in ihr Herz zu bohÂren: »Schaut, die Gräfin, sie sieht gar nicht mehr schön aus, das ist ihr wahres Gesicht.«
Da raffte diese ihre dürre Pracht und lief so schnell sie konnte nach Hause.
Am nächsten Tag nun aber tat sie ihren zweiten Wunsch: »Geistlein, heute möchte ich ein Kleid aus Spinnenweben, so fein gesponnen, wie kein Sterblicher es vermag.«
Und Spinntili spann und spann aus tausend Spinnenweben ein zauberhaftes Kleid. Es umwehte die Gräfin wie duftige Wolken. Sie war begeistert. Doch, schon nach dem zweiten Tanz, da hing das Kleid in Fetzen von ihr. Jedes abgerissene, schmutzige LumpenÂweib hätte neben ihr wie eine Königin ausgesehen. Voller Scham und Entsetzen stürzte sie nach Hause.
Doch dann, in der dritten, der letzten Nacht, da sollten alle sehen, wie strahlend sie sei und sollten vor Neid zerplatzen. So wünschte sie sich ein Kleid aus goldenen Sonnenstrahlen. Das war eine schwere Aufgabe für Spinntili, aber er war ja ein Geist. Und so brachte er am frühen Abend eine prächtige Robe, die glänzte und glitzerte wie die Sonne. Und die Gräfin drehte und wendete sich vor dem Spiegel und weidete sich an ihrem eigenen Bild. Aber, als es Abend wurde, und sie sich gerade im ersten Tanz drehen wollte, da ging die Sonne unter. Ihr Körper erstrahlÂte noch für eine Sekunde wie im Abendrot, und dann stand sie … nackt im Saal.
Seitdem hat die Gräfin nie mehr besondere Kleider haben wolÂlen. Sie trug, wie die anderen Frauen auch, gutes, ehrlich gewebÂtes Bielefelder Leinen, und die Bürger achteten sie fortan als eine der Ihren.
Das Leinengewerbe hat Bielefeld reich und bekannt gemacht. Später, als die Spinnräder und Webstühle durch Maschinen erÂsetzt wurden, waren noch einmal schwere Zeiten zu überwinÂden. Die Spinner und Weber mußten ihre Selbständigkeit aufgeÂben, man baute ein riesiges Schloß, und sie wurden FabrikarbeiÂter.
Dann kam eine Zeit, da die Menschheit sich entzückte an Nylon und Perlon, oder wie die neuen Gewebe alle hießen. Wenn da die Gräfin sich ein Kleid aus Kohle gewünscht hätte, so hätte Spinntili ihr auch zu Diensten sein können, denn alle die Synthetics werÂden aus Kohlenstoff hergestellt.
In jüngster Zeit aber sind sie wieder sehr zufrieden, die LeinenÂmuhme, die Webjungfer und das Spinngeistlein, das erwachsen geworden ist und nur noch ganz saubere Arbeit leistet. Die Stadt ist wieder umgeben von wogenden, blauen Flachsfeldern. Gutes, reines Leinen ist wieder in Mode gekommen.
Der Spindelbrunnen in der Bahnhofstraße erinnert uns an das alte Gewerbe,das Bielefeld groß gemacht hat.