Der Lügentunnel .

Lügentunnel s

Wenn man von der Obernstraße zum Klosterplatz geht, kommt man an der Jodokuskirche durch einen engen, dunklen Gang, der auf einer Seite von einem Engel bewacht wird. Wer weiß denn auch, daß das der Lügentunnel ist? Es war einmal ein gar unseliger Geselle, der trug dieeselle, der trug die Haare genau so zottelig wie sein Gewand, und die Stiefel hatten noch größere Löcher als sein, mit fünf Hahnenfedern geschmückter Schlapphut. Seine Stimme klang wie rostiges Eisen, und man nannte ihn den »schaurigen Jonathan«.
Die kleinen Kinder hatten Angst, doch die größeren verhöhnten ihn und johlten:
Jonathan, Jonathan
schau dich mal im Spiegel an,
bist so dumm und plump
bist ein großer Lump!
Jonathan grollte darob mit eben diesem schaurigen Gekrächze und schwang wütend seinen dicken Stock.

Lügrntunnel Wanderer

Jonathan war kein böser Mensch. In grauen Zeiten wurde seine Urahnin. die ein wunderschönes Weib gewesen war, von einer eifersüchtigen Hexe mit eiem Fluch beleg. Alle ihre Nachfahren sollten häßlich sein und im Banne des Satans stehen, bis einer sich in seiner Not selbst erkenne. So war es gekommen, daß auch bei Jonathans Geburt der Teufel Pate gestanden hatte und nun dessen Geschicke lenkte . Es führte der Geselle ein unseliges Leben. Sein ganzes Sinnen und Trachten ging nur dahin, ohne Mühsal reich zu werden. Und so stahl er vom Morgengrauen bis zur Dämmerung dem lieben Herrgott die Zeit, nur damit beschäftigt, zu brüten, woher an Zaster und Mäuse kommen. Als er sich nun wieder einmal in der Gegend um Tatenhausen herumtrieb, hörte er, daß auf dem Schloß gerade ein Pater vom Bielefelder Kloster den Gottesdienst abhielt, wie das so üblich. Just reifte in ihm ein finsterer Plan. Er lauerte dem heimziehenden Mönch auf, schlug ihn nieder und raubte ihm Brevier und Kutte. Mit dieser angetan, das Gebetbuch in der Hand, schritt er vergnügt ein Liedchen pfeifend den schönen “Paterpatt” entlang gen Bielefeld. Am Kloster angekommen, gab er sich als wandernder Bruder aus und bat um Einkehr und Unterkunft. So nistete er sich – des längeren Bleibens willig – in einer Zelle ein. Doch nicht, um fromm zu beten und gute Werke zu tun, war er in das Mönchsgewand geschlüpft, er sann darauf, sich an den barmherzigen Spenden zu bereichern. Und so behielt er nicht nur den Großteil der täglich Gaben, die er selbst als scheinbarer Franziskaner erbettelte, nein, diebisch klaubte er des Nachts auch aus den Säckeln der anderen Brüder die Thaler heraus.
Um nun seine Beute beiseite zu bringen, hatte er sich, da die Pforte Klosters nachts stets verschlossen war, heimlich vom Keller aus eine Öffnung zu dem Durchgang gegraben, gerade groß genug, daß er seinem klapperdürren Leib hindurchschlüpfen konnte. So gelang ihm, ungesehen ins Freie zu kommen und das Geld unter einer Ulme beim nahen Waldhof zu vergraben. War er zurück, verschmierte er Loch sorgfältig mit Lehm, auf daß es keiner bemerke. So trieb der schaurige Jonathan sein Unwesen wohl lange Zeit. Ja hört nur, er saß, als ob es gerecht, beim St. Jodokus-Kirchweihfest mit dem Bürgermeister an einem Tische und schlich sich in dessen Vertraen ein. Der und die Ratsherren wurden von den Mönchen jährlich zur Feier eingeladen und reichlich bewirtet, nur den Wein mußten die Herren selbst mitbringen. Eines Nachts nun, es war ein heißer Augusttag gewesen, und die Gassen glühten noch von der eingesogenen Sonnenwärme. Der runde, volle Mond leuchtete am Himmel, und die Menschen hatten einen unruhigen Schlaf. Am letzten Sonntag war von der Kanzel ein neuer Betteltermin angesetzt worden, und Jonathan hatte von einem adligen Bürger der Stadt eine beachtliche Summe bekommen, die für die Pflasterung der ums Kloster liegenden Gassen bestimmt war, und ein anderer hatte eine Stiftung für die neue Mädchenschule gemacht. Wie freute er sich diebisch, die neuen Reichtümer zu vergraben. Doch nicht nur die Menschen fanden in dieser Nacht wenig Erquickung, auch die Tiere waren unruhig. Und so kam es, daß der Hund vom Waldhofbauern, als er seltsame Geräusche unter den Bäumen hörte, laut zu bellen anfing. Dadurch weckte er all die anderen Hunde, Katzen und Rösser der Narbarschaft auf, und ein animalisches Babylon brach aus. Sogar Hähne fingen an zu krähen, wähnten sie doch, der Morgen sei angebrochen. Alle Hausherren mit ihren Weibern, die Knechte und die Mägde, die Gesellen und die Lehrbuben, die Krämer und die Höker stürzten aus ihren Häusern auf die Straße, um zu sehen, was sich da begäbe.
Im allgemeinen Tumult war es Jonathan gelungen zu entkommen und sich in seinen Gang zu retten. Doch was war das? Sein Loch war verschwunden! An einem Ende des Ganges aber stand ein Engel mit Schwert in der Hand. Er sprach: »Elender Mensch, wie kannst du mit Lügen und Trügen deine Tage füllen und dreist dich an Gaben vergreifen, die gegeben sind Gutes zu tun. Sprich und bereue!«
Jonathan erwiderte frech in das Antlitz des Engels: »Warum bezichtigt Ihr mich? Ich bin ein braver Mönch und diene Gott. Ich wollte nur ein wenig wandeln und mich an der Nachtkühle laben.« Am anderen Ende des Ganges aber stand, die Hörner gesenkt und vor Begierde zitternd, der Teufel. Und mit satanischem Lächeln hetzte er: ” Weiter so, du dummer Mensch, sündige nur fort, so wirst du endlich mein sein!«
Auf einmal erfüllte ein beißender Schwefelgeruch den Tunnel, und die Wände schienen aufeinander zuzustreben. Immer enger und enger wurde das stinkende Gefängnis. Schon berührten die Mauern Jonathans Schultern, er meinte keinen Atem mehr zu bekommen und er schrie.

Tunnel fertig

Da hörte er die Stimme des Engels: “Du Unseliger, bekenne, daß du ein Sünder bist, du wirst erlöst sein.« Da rief in seiner großen Todesnot der Jonathan: “Ich bekenne! Vergebt mir, ich bereue.« Dann fiel er auf die Knie und die Sinne schwanden ihm. Augenblicklich fuhr der Teufel mit einem wütenden Ho-Ho in die Hölle und ward nie wieder gesehen. Als aber der Jonathan seine Augen wieder anfschlug, waren die bedrückenden Wände auseinandergewichen, er war geläutert und der böse Fluch von ihm genommen. Mit anderen frommen Laien gründete er die Gürtelbruderschaft. Ihre Mitglieder trugen zum Zeichen ihrer seelsorgerischen Arbeit einen geweihten Gürtel.
Und man erzählt auch, daß, als der Kanonenbischof Bielefeld beschoß und es rund um den Markt brannte, Jonathan der erste war, der mit nassen Kuhhäuten die Flammen ausgeschlagen hat. Nach seinem Tode wurde er – wie ein Klosterbewohner – auf dem unterirdischen Friedhof, der sich unter dem Kreuzgang an der Kirchenseite befand, feierlich begraben, und die Schwarze Madonna hat ihn in ihrer Hut. Heute passieren viele Menschen täglich den Gang zwischen der Obern­straße und dem Klosterplatz. Doch wer mit einer großen Lüge durch diesen Tunnel geht, dem ist, als würden die Wände immer enger, und ihm wird bänglich. Möge er seine Schuld erkennen und fürderhin der rechten Weg gehen. Der Engel, der noch heute das Kloster bewacht, wird ihm dabei helfen.

Lügentunnel Tor Engel Bild

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