Der winzige Riese. (Die Hühnenburg)

Winz Titel

Vor Urzeiten streifte durch unsere Gegend einmal ein Ritter, der war hünenhaft groß und stark. Er hatte neun Söhne. Acht davon waren ebenfalls riesengroß und bärenstark. Der neunte aber, der Florian, war ein ganz kleiner Wicht. Während seine Brüder mühelos einen ausgewachsenen Ochsen stemmten, konnten seine dünnen Ärmchen kaum einen Kohlkopf heben. Die acht Starken tobten mit einer Meute wilder Jagdhunde herum, Florian hatte drei weiße Brieftauben und liebte sie sehr.

Winziger Riese Bild

Und wenn die Brüder sich mit schweren Eisenschwertern im Kampfe übten, saß er still in einer Ecke und las Märchenbücher. Besonders liebte er Geschichten wie die vom tapferen Schneiderlein oder vom kleinen Däumling und wünschte sich dabei sehnlichst, auch einmal Heldentaten zu vollbringen. Aber er war scheu und sehr furchtsam. “Floh”, riefen sie ihn, “Floh” und spotteten: “Ja, wenn er wenigstens hüpfen könnte wie ein Floh, aber dann bricht er sich ja seine Streichholzbeinchen. ” Am ärgsten trieben es der dritte und der vierte seiner Brüder. Diese waren besonders stark und außerdem die besten Schützen, und sie bekamen oft Anerkennung dafür von ihrem Vater. Darob waren sie recht hochmütig geworden und fühlten sich als die Anführer. Der Hünenvater aber hatte jeden seiner Söhne gleich lieb, und es grämte ihn, daß sein jüngster so gehänselt wurde, sollte er doch auch zu einem tüchtigen Mann heranwachsen.
Eines Tages nun schickte er ihn mit einem Brief zur Ravensburg. Weil Florian so winzig, aber eigentlich doch ein Riese war, wurden, wenn er Angst hatte, alle winzigen Dinge riesengroß. Er mußte, um seinen Auftrag zu erledigen, nun aber durch den finsteren, unwegsamen Wald und fürchtete sich sehr. Da sah er plötzlich einen Regenwurm gemächlich seines Weges kriechen. O Schreck! Der Wurm wurde augenblicklich größer und größer. Er färbte sich glühend rot, sträubte seine Rückenglieder zu spitzen Schuppen und fing an, bedrohlich zu zischen. Er war zu einem gräßlichen Tatzelwurm geworden und schien noch immer zu wachsen. Voller Entsetzen flüchtete Florian.

Winzr Wald 2 mit Wurm Jungen

 

Als er völlig erschöpft nach Hause ankam, lachten ihn die Brüder schallend aus, und der Vater runzelte die Stirn. Florian verkroch sich in seiner Kammer und schluchzte: “Ich bin zu nichts nütze, ach, wäre ich doch nie geboren worden!” Viele Tage saß er so, wollte nichts essen und nichts trinken. Und die Tränen hatten seine Augen schon ganz blind gemacht. Da erschien ihm auf einmal die Gestalt einer weisen, alten Frau. Sie hatte ein gütiges Gesicht und große schwarze Augen, die ihm bis tief hinein ins Herz schauten. “Armer Flori”, flüsterte sie, “sei nicht traurig, ich kenne deinen Kummer und will dir helfen. Ich weiß zwei starke Gesellen, mit denen im alles gelingt. Ich werde dir die Zwillingsbrüder Iwilldas Ikanndas schicken. Du wirst sie niemals sehen, aber sie werden dir dienen. Du mußt nur dreimal laut ihren Namen rufen und fest an sie glauben. Aber hüte dich! Verlange niemals etwas von ihnen, was unrecht oder unmöglich ist! Sie werden dich allein lassen, und du wirst kläglich versagen.” Damit verschwand die Gestalt lautlos, wie sie gekommen. Florian war sehr aufgeregt und faßte einen Entschluß. Noch in der gleichen Nacht nahm er den unbestellten Brief, packte sich ein Stück Brot, eine Flasche Saft und seine drei Tauben und marschierte los. Jetzt war der Wald noch viel unheimlicher. Von überall her hörte er es knistern und knacken, schaurig klang das hohle Uuuhuuu des Käuzchens in der Dunkelheit. Es zog sich alles in seinem Leib zusammen, und er meinte, noch winziger zu sein als sonst. Da rief er dreimal ganz laut “Iwilldas, Ikanndas! ” und auf einmal war ihm, als könne er viel tiefer atmen, sein Herz schlug kräftig und Freude erfüllte seinen ganzen Körper.

Winzriese im Wald mit Helfern gut

 

Er schritt voran, sah Eichhörnchen hüpfen und Fledermäuse jagen. Aber sie wurden nicht zu Ungeheuern, und er hatte kein bißchen Angst vor ihnen. Der Herr von Ravensburg freute sich über die ihm überbrachte Nachricht, schrieb gleich eine Antwort, und Florian schickte sie mit einer seiner Brieftauben an den Vater zurück mit einem kleinen Zettelchen dazu: “Dein froher Sohn Florian.”

Taube fliegt

Drei Jahre blieb Florian in der Ferne und wurde ein tüchtiger Mann. Kurz nachdem auch das dritte Täubchen mit einer guten Nachricht heimgefunden hatte, kehrte er selbst zurück und sein Vater spen-dete ihm viel Lob.
Auch seine Brüder freuten sich, daß nun endlich wieder alle zusammen waren. Nur der Dritte und der Vierte wurden von Neid zerfressen. Sie mißgönnten dem Kleinen des Vaters Anerkennung und sannen darauf, ihm das Geheimnis seiner Wandlung zu entreißen. Sie schlichen fortan hinter ihm her und beobachteten alle seine Wege und Worte. So hörten sie eines Tages auch, wie er laut “Iwilldas, Ikanndas” rief. “Ha, jetzt hat er sich verraten”, frohlockten sie, “er steht mit Geistern im Bunde, das können wir auch.”
In der nächsten Nacht nun stellte sich der Dritte auf eine hohe Klippe, rief mit verstellter Stimme dreimal die Namen und befrahl: “Ich will fliegen können, macht, daß ich fliegen kann! ” Dann sprang er in die Tiefe. Aber er hatte Unmögliches verlangt. Tage später fand man seinen zerschmetterten Körper zwischen dichten Brombeerhecken im Tal.
Der Vierte wurde nun erst recht zornig. Er gab Florian die Schuld am Tode des Bruders. Auch er stieg des Nachts auf einen Berg und hatte Böses im Sinn. Er verstellte seine Stimme so, daß man meinen könnte, Florian riefe. Dann schrie er: “Ihr Geister, tötet den, dessen Stimme ihr hört!” Doch die Zwillinge verweigerten wiederum ihren Dienst. Durch das laute Schreien aber hatte
der Vierte ein Wolfsrudel aufgeweckt. Sie fielen über ihn her und rissen ihn in tausend Stücke.
Florian aber wurde von allen geachtet. Und als sein Vater sehr alt geworden war, bestimmte er ihn zum Oberhaupt der Familie. Er ließ auf dem Berg inmitten des finsteren Waldes eine große Burg mit einem mächtigen Ringwall errichten, wo alle friedlich miteinander wohnen konnten und das Herumstreifen ein Ende hatte. Dann nahm er sich ein starkes Mädchen zur Frau, bekam mit ihr neun Söhne, und alle neun waren hünenhaft stark.
Die Burg diente in späteren Zeiten als Wallburg. Sie ist verfallen, doch der Berg heißt noch heute die “Hünenburg”.

Winz Türme

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