Der Sackdepp. (.eine Geschichte aus Deppendorf)
In Deppendorf steht ein urartes Gebäude. Es hat ein Türmchen, und es schlägt eine kleine Glocke darin. Es ist die alte Schule. Und dem kleinen Carl, der vor hunderten von Jahren da als I-Männchen auf einem Strohballen saß, ist etwas ganz Wunderbares geschehen.
Als es vor langer Zeit noch keine Schulpflicht gab, dachte ein kluger Bauer, daß es gut wäre, wenn auch die Kinder der Heuerlinge Lesen und Schreiben lernen würden. Und so beschloß er auf seinem Hof ein Zimmer einzurichten und den Kleinen die Grundlagen beizubringen, was sonst nur den wohlhabenden Bürgern möglich war. Doch bald reichte der eine Raum nicht mehr aus und er beschloß, eine Schule zu bauen. Es ergab sich, daß er von der Staatsdomäne einen Lustgarten erwerben konnte, und so fing er auf eigene Kosten mit dem Bau an. Die Heuerlinge schaufelten die Grube aus, und die Kolone lieferten den Sand. Er wollte auch einen Stall daneben errichten, damit er ein wenig Landwirtschaft betreiben könne, aber da in Westfalen Mensch und Tier unter einem Dach zu leben haben, zog er mit seiner Familie ins Dachgeschoß und in Erdgeschoß war auf einer Seite der Schulraum und auf der anderen der Stall für das Schwein, die drei Ziegen und die Hühner. Die Schüler halfen beim Füttern und beim Ausmnisten.
Nun gab es das Carlchen. Er war gerade erst 5 Jahre auf der Welt und der kleinste und ärmste unter den Schülern. Sein Vater war Knecht beim Kolon Großenheider gewesen und hatte zwischendurch als “Graßmäher” in den Niederlanden gearbeitet . Dabei schlossen sich etwa 30 Männer zusammen, packten ihre sieben Sachen in den “Puck”, schulterten die Sense und wandert 4 bis 5 Tage lang die 200 km bis zu ihren Arbeitsplätzen. War die Heuernte zu Ende, kehrtern die “Hollandgänger”mit ungefähr 30 Thaler Lohn zurück nach Hause und arbeiteten bei der Kornernte. Pauls Vater konnte sich an dem schwerverdienten Geld nicht lange erfreuen. Die Pferde mit dem hochbeladenem Erntewagen gingen durch, und er verunglückt tödlich.
Die Mutter versuchte mit Näharbeiten ein paar Heller zu verdienen, aber es reichte kaum zum Leben. Carlchen hatte keine Schuhe und seine einzige Hose war zerrissen. Sie konnte keine neue kaufen. Da steckte sie in ihrer Not beim Kartoffellesen einen leeren Sack unter ihren Rock und nähte dem Sohn aus dem Sackleinen eine Hose.
Sie hing unförmig an dem Kleinen herunter und alle Kinder lachten:
“Der kleinste Deppendorfer ist der größte Depp, ein Sackdepp, ein Sackdepp!” Und weinend kroch Carlchen in den Stall zu den Ziegen. Frieda, die Mutterziege, hatte gerade ein kleines Böckchen bekommen, und Carlchen kuschelte sich an das Tier und kraulte sein Fellchen, und es meckerte freundlich. Und so ging er nun immer, wenn er Kummer hatte zu dem Tier, und klagte ihm sein Leid. So etwa auch, als er beim “Leichensingen” nicht mitgenommen wurde, wo es doch da immer am Schluß für den Lehrer eine “Fülle Bier aus dem Eimer” und ein Brötchen für die Schülersänger gab.
Und dann geschah etwas Scheckliches. Das Osterfest nahte, es war Gründonnerstag und Carlchen wollte am Abend noch einmal in den Stall gehen, um seinem Böckchen Gute Nacht zu sagen. Wo war es denn nur? Der Junge suchte verzweifelt. Da, voller Entsetzen sah er den Kopf des Tieres mit toten Augen im Stroh liegen. Es war für den Osterbraten geschlachtet worden.
Er schrie seine Trauer hinaus, so laut, daß die anderen Schüler alle angerannt kamen. Und dann fingen die an zu lachen, sie schubsten und knufften ihn und höhnten: “Was bist Du denn für ein Dorfkind, Tiere sind zum Schlachten da, willst Du denn keinen Braten essen.” “Bei uns gibt es keinen,” wollte er noch sagen, aber da packte ihn schon der große Gustav. Er hatte eine Wespe, die zu früh geschlüpft war, in der Hand und hielt sie dem Kleinen an die Wange: “Du Heulsuse, Was bist Du Sackdepp für ein Hosenscheißer, ich wird Dir zeigen, was weh tut!” Da stach die Wespe zu, und Cars Wange schwoll an, und sein ganzer Kopf schwoll an. Er wurde immer dicker, dicker und dicker, und schließlich war er so groß wie ein Ballon. Und auf einmal schwebte er ganz langsam in die Höhe immer höher und höher. Schließlich saß er auf einer Wolke und segelte mit dem Wind davon.
Er landete auf der Insel Somnalia mitten im Meer der Sinne. Da trat ein freundlicher Herr zu ihm. Es war der Gottkönig Morpheus: “Komm zu mir, kleiner Depp, komm in meine Arme.”
Und sie schwebten zusammen durch einen nachtdunklen Wald, den ein seltsames Rauschen erfüllte und kamen zu einer Grotte aus der ein träger Fluß strömte: “Schau, kleiner Depp, Du kannst nun wählen. Du kannst in die Fluten hinuntersteigen, dich treiben lassen und alles vergessen. Du kannst aber auch eine Furt suchen und über diese in die Wirklichkeit zurückkehren. Deine Augen werden sich öffnen, und Du wirst erkennen und verstehen lernen. Du wirst sehen, was den Einen vernichtet, hält den Anderen am Leben, was dem Einen die Fessel, ist dem Nächsten die Freiheit. Wähle gut, denn Dein Lebensweg hängt davon ab. Und merke, der Wert eines Menschen hängt nicht von seiner Hose ab.
Und plötzlich wich die Dunkelheit. Carl riß die Augen auf. Er lag auf einer Wiese und neben ihm rauschte nicht der Lethe, es plätscherte der Hassbach, und nicht die dunkle Grotte, sondern die klappernde Mühle erhob sich vor seinen Augen.
Sein Gesicht war wieder abge-schwollen. Seine Peiniger waren davon-gelaufen, bis auf einen.
Der starke Gustav stand reumütig neben ihm und kühlte ihm mit einem Lappen die Wange. Er wurde sein Freund und Beschüt-zer. Aber welch Wunder, er hatte eine wunderschöne neue Hose an aus festem, schwarzen Bauerncord.
Carl ist später selbst Lehrer in der alten Schule geworden und hat seine
Schützlinge mit Umsicht und Weisheit gehütet, so wie es noch heute an
der Klassentür steht “Weide meine Lämmer.” Wer ihm aber die Hose
geschenkt hat während seine Sinne nicht bei ihm waren, das hat er nie
herausgefunden.