Die Sage von Sara, der Räbin.(der Rabenhof in Baumheide)
Wenn man heute zum Rabenhof kommt, sieht man eine Straße durch eine Siedlung von Hochhäusern, Großstadt.
Vor langer , langer Zeit war hier braches Land. Auf einem einsamen Ödhof mühte sich eine Frau in einem alten Kotten um Dach und Brot für sich und ihre Tochter, die man Sara genannt hatte, Prinzessin des Morgensterns.
Diese war, als sie geboren wurde, ein winziges, struppiges Geschöpf mit einem zu großen Kopf und kam mit den Füßen zuerst auf die Welt, so, wie die Leute raunen, es ein Rabenkind tut, das mit dem Schwanz zuerst aus dem Ei schlüpft. Doch sie wuchs heran und wurde ein freundliches, wohlgestaltetes Jüngferchen. Ihr Spielkamerad war der Jobst vom Schloß “Milisou”, einem Lehen der Reichsabtei Herford.
Doch wie sie nun älter wurde und anfing über sich und die Schöpfung nachzudenken, kam ihr eine Frage nicht aus dem Sinn. Und sie ging zu ihrer Mutter: “Ei Mutter, alle anderen Kinder leben in einer Familie, wir beide sind allein hier , sag mir, wer ist mein Vater.” Da wurde die Frau sehr traurig und seufzte:
Du armes Kind vergiß es nicht. Ein Rabenvater war der Wicht.
Dein Vater, ach, verstieß er dich, mein Liebster, ach, verließ er mich
und hat sich noch in selbiger Nacht für immer auf und davon gemacht.
Man sah, wie Sara förmlich zusammenschrumpfte. Die Worte ihrer Mutter hatten sie mitten ins Herz getroffen.
Sie war ein Rabenkind!!!!
Sie verlor ihre Anmut und ihre Fröhlichkeit, und als ihre Mutter bald darauf dahinschied, zog sie sich von aller Welt zurück und hauste einsam in ihrem Kotten. Mitfühlend wollte Jobst ihr beistehen, doch sie wies ihn barsch zurück und vergrub sich in ihrem Schmerz. Ihre Nase wurde immer länger und spitzer und glich fast dem Schnabel eines Raben. Ihr Kinn jedoch floß fliehend dahin, was diesen Vergleich noch deutlicher machte. Sie hüllte sich in schwarze Gewänder, und die Leute bemerkten, wie sie heimlich Raben um sich scharte und vertraulich mit ihnen sprach. Sara wurde ihnen unheimlich, und ein Ruch von Verachtung, Grusel und Angst lag in dem Wort “die Räbin”, wie sie die Unglückliche nun nannten.
Saras ganzes Sinnen war nur darauf gerichtet, wer ihr Vater sei, wo ihr Vater sei und wie sie ihn finden könne.
Als sie eines Tages am Vogelbach entlang zu einer großen Wiese kam, sah sie diese übersäht mit kleinen mauvefarbenen Blüten der Kuckuksnelke. Welch lieblicher Anblick, welch berauschender Duft, dachte sie, als auf einmal ein Summen wahrnahm: “Nimm uns mit , nimm uns mit!” und sie pfückte ein Sträußchen.
In der Nacht schlief sie tief, doch im Morgengrauen fingen die Blüten wieder an zu singen:
“Sara, ach die Zeit ist arg, aber Du, Prinzess, bist stark.
Bist so nah und doch so fern, leuchtest uns als Morgenstern.
Stehe auf und suche bald am Doppelfluß den Zauberwald.”
Und so machte sich Sara in der nächsten Nacht auf, und als die Morgenröte den Himmel färbte, kam sie zu dem Ort, an dem Johannesbach und Lutter sich vermählen, um dann als Aa dahin zu fließen.
Und als sie in der nächsten Nacht wieder zum Fluß eilte, da war ihr, als ob unsichtbare Kräfte sie weitertreiben würden. Als die Dämmerung wich, tat sich plötzlich ein wildes Gewirr vor ihr auf, sie war im Zauberwald.
Wieder trügte Nelkenduft ihre Sinne, sie wurde leicht wie eine Feder, breitete glückselig ihre Arme aus …. ihre menschlich Hülle schien zu zerplatzen, sie wandelte sich in einen Raben, breitete ihre Schwingen aus und flog in die Weite.
Sie sann, und sann, wer ihr bei der Suche nach ihrem Vater helfen könne. Da flog sie zu den 7 Raben: “Ihr Brüder, die Ihr verwunschen seid,
seht, ich bin Eure Schwester im Leid. Ihr schwirrt umher in allen Winden helft mir, meinen Vater zu finden.” Doch die Raben krächzten nur: “Scher Dich weg, wir haben im Märchen eine andere Aufgabe zu erfüllen.”
Nun überwand sie Zeit und Raum und flog hilfesuchend zum Kyffhäuserbergl:
“Könnt Ihr mich zu meinem Vater bringen?” Die den Berg umkreisenden Raben aber kreischten: “Bist Du toll? Wir bewachen den Schlaf des Kaisers Rotbart und haben keine Zeit, uns um weggelaufene Väter zu kümmern.”
Da flog sie schließlich zu Hugin und Munin, den mächtigen Gefährten Odins. “Hört, ich bitte Euch, Ihr seid göttergleich, helft mir, und gebt mir meinen Vater wieder.” Doch diese breiteten ihre Flügel und sprachen: “Vergebens, Du kannst uns nicht bitten,
Du kannst uns nicht kaufen,
denn unsere Zeit ist abgelaufen.”
Und damit verschwanden sie im Nichts.
Traurig und tief enttäuscht flog sie nach Hause. Und als sie in ihrem Kotten aufwachte, war sie wieder zur Sara geworden.
Doch sie wurde immer schwermütiger. Sie war gezeugt von einem Rabenvater, also war sie ein Rabenkind. Sie scheute den Tag und traute sich micht mehr hinaus, denn wenn man sie erblickte, grölten die Bengels: “Räbin, Räbin warum flatterst Du nicht davon”, die Mütter riefen ihre spielenden Kinder ins Haus, und die Ammen versteckten ihre Säuglinge vor ihr. Und so vergingen fast 20 Jahre. Ihr Kotten verfiel, die Äcker verödeten, und die Raben fanden ihren Fraß.
Da pochte es eines abends an ihre Tür. Eine Kutsche stand im Hof, ein vornehmer älterer Herr begehrte Einlaß und hub an zu sprechen: “Bist du Sara ? Ich bin Dein Vater”. Vor Schreck verließen Sara die Sinne und der fremde Mann bettete sie in seinen Armen.
Übermütig und abenteuerlustig war der Jüngling damals ausgezogen, die weite Welt zu erobern. Mit Fleiß und Geschick hatte er es zu einigem Wohlstand gebracht, und erst Jahrzehnte später erfuhr er, daß er Vater einer Tochter war. Nun war er heimgekehrt. Da flatterte die Räbin aus Saras Geist davon. Allmählich blühte sie wieder auf und fand zurück ins Leben.
Der Vater half liebevoll den kleinen Hof wieder aufzubauen, und Sara erlöste ein wenig Zugeld, indem sie in einem Nebengebäude des Schlosses in einer kleinen Destille die Düfte der Kuckuksnelke auffing und in Flakons anbot. (Jahrhunderte später war hier dann eine Lackfabrik entstanden.) Zu Jobst, der das schon 1194 urkundlich erwähnte Gut als letzter seines Stammes bewirtschaftete, verband sie später eine lebenslange Freundschaft.
Heute malt die Besitzerin des Schlosses zauberhafte Bilder, die man nur im Traum oder unter dem Einfluß von Nelkenduft zu deuten vermag.
Ob sie wohl etwas von Sara weiß und vom Rabenhof?
Nur die Straße einer Hochhaussiedlung erinnert heute noch an die Vergangenheit.
p.s. Der Rabenhof, (Anschrift Brake 14 ) wurde im 12. Jahrhundert besiedelt und blieb die ganze Zeit im Besitz der Familie Rabe. 1930 wurde das Land, auf dem sich Rieselfelder befanden, von der Stadt aufgekauft. Nach dem zweiten Weltkrieg gab es erste Bebauung. 1950 ist der Hof einem Brand zum Opfer gefallen, und mit der dann erfolgten Errichtung einer Hochhaussiedlung entstand ein neuer Stadtteil in Bielefeld.