Die verzauberten Hemden. (Seidenstickers Geheimnis )
Das muß ich jetzt aber auch noch schnell erzählen, ist es doch eine irre Geschichte. Wißt Ihr denn wie die neuen Modelle der Seidensticker-Hemden entstehen? Na, dann hört mal:
In einem keinen Haus in der Luisenstraße wohnt Luise. Sie ist 29 Jahre und schon etwas altjüngferlich. Jeden Morgen ein Viertel vor 7 fährt sie mit dem Fahrrad in die große Fabrik und näht Hemden. Schon ihre Großmutter hatte beim alten Dornbusch das Nähen gelernt. Da gab es noch die steifen Kragen, die mit einem Kragenknöpfchen am Hemd festgemacht wurden. Heute gehört die Fabrik Seidensticker und ist in aller Welt bekannt, und der Chef pilgert nicht mehr mit der Kiepe über Land, um seine Ware anzupreisen. Daß Luise viel Spaß an ihrer Arbeit hatte, kann man nicht sagen, aber sie verdiente, was sie brauchte und war’s zufrieden. Aber in ihrem Kopf waren viele Gedanken, und wenn sie so an der Maschine saß und die Nähte herunterratterte, träumte sie sich manche Geschichten zusammen, die sie mit in die Hemden hinein nähte.
Nun war aber Luise ein Sonntagkind, nur wusste sie das nicht. Sie wurde um Mitternacht geboren, noch ehe der letzte Glockenschlag ertönte. Da aber die Uhr der Hebamme 2 Sekunden vorging, schrieb sie auf, Luise sei am Montag zur Welt gekommen. Jeder weiß ja, dass manchen Sonntagskindern alle Wünsche erfüllt werden. Bei Luise aber hatte die Erfüllung immer ein kleine Verspätung und fand erst statt bei dem, der das Hemd am Leibe trug.
So geschah es dem Mann, dem, als er sein neues Hemd anhatte, alle dauernd Bier, Wein und Wasser anboten, nur weil Luise an einem heißen Tag gewünscht hatte: “Ach, hätte ich doch was Kaltes zu trinken.”
Schlechter erging es dem Lehrer Schnupp, der, gerade als er eine Arbeit über deutsche Flüsse schreiben lassen wollte, eingenickt war. Hatte Luise doch, als sie das Hemd nähte, sich nicht wohlgefühlt und beim Nähen rechten Unsinn gemachte, die Kragen an die Ärmel und die Manschetten an den Hals genäht und so gewünscht: “Ach könnte ich doch jetzt ein Stündchen schlafen. Daß die Schüler dann alle eine 1 in der Arbeit bekamen, war klar, sie hatten alle Aufgaben aus dem Lehrerbuch abgeschrieben als dieser schlummerte.
Am allerschlimmsten aber traf es den Herrn Grimmig. Er war schon 82 Jahre alt , hatte weder Frau noch Kinder und lebte so ganz allein. Er machte seinem Namen alle Ehre, grimmig war er immer. Zu seinem 80. Geburtstag hatte er vom Bürgermeister eine Flasche Schnaps und ein schönes Oberhemd geschenkt bekommen, damit er doch auch ein bisschen Freude habe.
Den Schnaps hatte er getrunken, das Hemd lag seitdem in der Schublade. Als er es dann Sylvester endlich einmal anzog … lag am nächsten Morgen ein Baby vor seiner Tür. Da hatte die einsame Luise in das Hemd hineingewünscht: “Ach, wenn ich doch nur ein Kind hätte!” Herr Grimmig übergab das Baby der Nachbarfamilie, deren Kind gestorben war, und die sehr glücklich über den Findling waren. Der alte Herr besuchte das Kind sehr oft und gar nicht mehr so grimmig.
Jahr um Jahr saß Luise nun schon in ihrer Fabrik, und sie stöhnte: “Ach, wenn sich die verflixten Hemden doch selbst nähen würden.” Und wieder verging die Zeit. Zur Weihnachtsfeier der Belegschaft bekam jede Näherin ein Hemd geschenkt. Die meisten gaben sie ihren Ehemänner oder Freunden, Luise meinte, das kleine rosa gestreifte gäbe auch eine schöne Bluse für sie selbst ab. Aber … als sie am 2. Feiertag nach einem kleinen Spaziergang auf der Promenade nach Hause kam erschrak sie sehr. Da stand ein Computer in ihrer Küche und nähte ununterbrochen Hemden, eines nach dem anderen. Alles, was er an Stoff erwischen konnte, hatte er schon verarbeitet. Erst die Tischdecke mit dem Kreuzstichmuster, dann das Wendebettzeug und die Frottéhandtücher.
Bei den lila Deckchen hatte der Stoff nicht gereicht, sodaß Kragen und Maschetten aus der Serviette entstanden. Und gerade war er dabei das Plastiktuch vom Küchentisch zu verwursten und wollte schon an die Gardinen gehen.
Endlich fand sie den Aus-Knopf und konnte dem Treiben ein Ende machen. Am nächsten Tag packte Luise alle Hemden ein, nahm sie mit in die Fabrik und zeigte sie ihrem Chef. Der war ganz begeistert und nahm sie sofort in seine Kollektion auf. Und was glaubt ihr?
Die verrückten Weihnachtshemden wurden der große Modehit, Hemden mit gestickten Rosen auf der Brust, bunte Hemden mit weißem Kragen, Wendehemden, und die aus Plastik waren der Renner als Regenhemden. Luise brauchte nicht mehr an der Maschine zu sitzen, sie wurde zur Direktrice befördert und kauft nun nur noch schöne Stoffe ein. Die Seidensticker-Hemden gehen in die ganze Welt. Wenn sie aber ganz privat mal etwas nähen will, dann benutzt sie die alte Maschine ihrer Großmutter, die in einem Bodenkämmerchen steht.