Die Sylvesternacht. (Historisches Heimattreffen)
Es ist eisig kalt und stockdunkel. Meine diversen Enkel verlustieren sich im Bernstein oder dem Cafe oder in sonst einer gerade angesagten Kneipe. Es ist Sylvester. Ich habe mir aus dem Keller einen guten alten Rotwein hochgeholt, sitze bequem auf dem Sofa vor der Glotze und harre des “dinners for one”, um zum – sicherlich 13. mal – James über den Tigerkopf hopsen zu sehen, und ihn aus der Blumenvase trinken zu lassen. Die Böllerei hat noch nicht angefangen, und eigentlich bin ich müde, aber schließlich hat man ja das neue Jahr fröhlich zu begrüßen.
Plötzlich klingelt es. Nanu, wer könnte denn jetzt kommen? Eine alte Dame quält sich die Treppe rauf. Das ist doch tatsächlich Caroline Oetker. “Tja” meint sie, “ich habe gerade gehört, daß Sie ein Märchen über unsere Firma geschrieben haben, da wollte ich doch mal gucken, wer sie sind.” Ja, und dann haben wir uns ausführlich übers Kuchen-backen unterhalten.
Ich habe ihr erzählt, daß ich schon als kleines Mädchen ihr Backpulver kannte. Meine Mutter hatte damals ein “Küchenwunder”. Und mit diesem Wundertopf wurde jede Woche ein leckerer Napfkuchen gebacken. Es ist ja wohl allgemein bekannt, daß die Thüringer und Sachsen ohne
Kuchen nicht leben können. Und frühmorgens, nachmittags, und bei besonderen Gelegenheiten auch nachts um 12 h hat eben ein großer Berg leckeren Backwerks auf dem Tisch zu stehen.
Und wie wir so gerade beim Rezept für den guten Mohnkuchen mit Schmand sind, nicht zu vergessen die unübertroffenen Schittchen von Tante Ursel, bimmelt es wieder, und … August Bebel kommt hereinmarschiert.
“So ist es nun, tagtäglich latscht Ihr alle durch meine Straße, wißt Ihr überhaupt, was ich in Bielfeld gemacht habe? Nein? Nun ich bin weder in Bielefeld geboren worden, noch habe ich je in dieser Stadt gelebt Aber schließlich hat Goethe auch kein Häuschen an der Lutter gehabt und Mozart nicht in der Oetkerhalle musiziert. Ich denke, man hat eine Hauptstraße nach mir benannt, weil meine Ideen wahrscheinlich hier einen besonders guten Nährboden gefunden haben. Hatte doch der alte Delius gerade die Ravensberger Spinnerei erbauen lassen, wodurch viele Spinner ihre Existenz verloren. Ach, da kommt er ja.”
Und wie gerufen erscheint nun Hermann Delius. “Ja,” sagt der, “stimmt. Mit der Errichtung der Ravensberger Spinnerei mußten viele Menschen ihre Selbständigkeit aufgeben und Fabrikarbeiter werden.
Als ich damals im Gasthof Modersohn mit Johann Bansi ein Likörchen trank und ich mir mit den anderen Bielefelder Leinenbaronen einig wurde, daß wir mit der Zeit gehen müssen, also nicht darum kommen würden, das Leinen künftig mechanisch zu spinnen und zu weben, ahnte ich noch nicht, daß ich sogar Morddrohungen deswegen bekäme. Totschießen wollten sie mich. Aber schließlich habe ich dann auch für die 1 500 Menschen in der Fabrik gesorgt. Es gab Kindergärten und Spinnschulen, und Bielefeld blühte auf.
Und auf einmal steht Friedrich von Bodelschwing vor der Tür. “Nun,” meinte der, “was die Hilfe für Menschen angeht, kann ich wohl auch einiges aufweisen. Wer kennt in der Welt nicht “Bethel” Noch heute geben wir Kranken eine Heimat, betreuen und fördern sie und lassen sie mit Arbeit und Muße am Alltag teilnehmen.
“Na, nun mal Schluß mit der Prahlerei” kommt da plötzlich ein Einwurf aus längst vergangener Zeit. “Ihr brüstet Euch, eine Fabrik gebaut zu haben, oder ein Krankenhaus, aber ich habe ganz Bielefeld reformiert.
Ich, Hermann Havelmann, war der erste Pfarrer, der in der Marienkirche die Predigt auf Deutsch gehalten hat, so daß sie jeder versteht. Viel habe ich deshalb ertragen müssen und wurde auch gleich wieder abgesetzt. Aber den katholischen Priester, der nach mir kam, den wollten die Bürger nicht. Sie haben laut “eine feste Burg ist unser Gott” gesungen, seine Predigt damit übertönt und ihn mit Steinen beworfen. Und das war keine Montagsdemo sondern ein Sonntags-Krawall. Ich habe genau wie Bebel den Geist der Menschen verändert.”
Leise flüstert mir Frau Oetker zu: “Na bitte, nun fängt der auch an, anzugeben.”
Aber schließlich setzte Graf Hermann von Ravensberg dem Disput die Krone auf: “Ich will Euch allen mal was sagen: Ohne mich gäbe es überhaupt kein Bielefeld, ich habe die Stadt nämlich gegründet. Tja, da guckt Ihr.”
Aber schließlich haben sich alle zugeprostet und tüchtig getrunken.
Doch kurz, ehe die Geselschaft sich auflöste, klopfte es noch einmal leise. Hereinspaziert kam der alte Tiedi mit seiner Mutter Wilburga:
“Ich hoffe, Ihr wißt, wer ich bin. Ich habe doch mein Land an die Kirche in Paderborn übertragen, und im Gegenzug wollten sie für uns beide sorgen. Aber damit hapert es sehr. Ich bin auf Gelegenheitsjobs angewiesen und kann mich nicht um meine Mutter kümmern. Ich dachte, weil doch hier alle die guten Menschen so schön versammelt sind, ob nicht einer mal
Fürsprache einlegen kann, damit mein Mütterchen im Carolin-Oetker-Stift Aufnahme findet. Sie bekommt ja auch jedes Jahr ein neues Wollkleid, und für Sonntags hat sie noch eine schöne Haube von ihrer Großmutter. Sie würde also modisch nicht abfallen.”
Da bimmelt nun auch noch das Telefon: “Hallo, hier ist Alfred Kaeller. Im Internet wird gerade Ihre Tafelrunde übertragen. Ich hätte da für Tiedi einen guten Vorschlag. Ich bin doch Vorsitzender des Geflügelzuchtvereins.Auf dem Johannesberg wird eine große Landwirtschaftsausstellung veranstaltet. Neulich brachte ein
Dampfschiff schon mongolische Enten aus der Mandschurei, ich selber züchte weiße Truthühner, der Landrat von Ditfurth Pommersche Gänse und Crüwell hat verschiedenfarbige Hühner aus Padua. Wenn nun Tiedi noch besondere Rassen aus dem 11.Jahrhundert besitzt, würde ich sie gern mit ausstellen. Das Programm, es kostet 5 Pfennig, wird von der Firma Küster gedruckt. Vielleicht wird dann so ein altes Huhn prämiiert und Tiedi hätte ausgesorgt.” Na toll ! Welche Aussicht.
Da plötzlich drei Kanonenschläge !!!! Ich schrecke hoch. Ich sitze noch immer auf dem Sofa. James hat längst seine Lady noch oben gebracht, Die Weinflasche ist leer. Ich bin ganz allein. Draußen fliegen nun die Raketen in den Himmel und die Nachbarn brüllen: “Frohes Neues Jahr!”
Was eine seltsame Sylvesternacht!