Der Brillenbaum (Große Platane am Ulmenwall )
Am Ulmenwall steht eine uralte Platane. Es ist das sorgsam gepflegte Prachtstück unseres Gartenbauamtes. Der ganz besonderer Baum ist der Lieblingsplatz der kleinen Oma Amanda Nolte. Sie lebt in einer winzigen Wohnung in dem großen Block in der Breiten Straße, wo es wenig Grün gibt. Weit kann sie nicht mehr spazieren gehen, und deshalb sitzt sie am liebsten hier, ruht sich aus und hört den Vögeln zu. Manchmal hüpft auch ein Hund über den Rasen oder ein Eichhörnchen klettert flink in den Ästen herum. Die kleine Oma kennt viele Geschichten von Zwergen und Riesen, von Elfen und Hexen, die einst in unserer Stadt hausten. Aber vor einiger Zeit hat sie etwas erlebt, das war ganz und gar märchenhaft.
Wenn die Sonne schön scheint, dann nimmt die kleine Oma ihre Brille von der Nase und genießt die warmen Strahlen auf ihrem Gesicht. Und so ist es passiert. Wieder einmal hatte sie die Brille ins Etui getan, auf die Bank gelegt und dann … vergessen. Erst zuhause merkte sie es, aber als sie zurück kam, war die Brille verschwunden. Was war geschehen? Der Spitz, der öfter hier herumschnüffelt, hatte das herunter gerutschte Etui mit einem Knochen verwechselt und unter der Platane verbuddelt.
Als die städtischen Gärtner das nächste Mal die Grünanlage am Ulmenwall pflegten, fanden sie das vergammelte Etui, und aus Jux hängten sie die Brille an einen Ast. Im nächsten Frühjahr nun blühte die Platane auf einmal nicht wie üblich, sondern die Knospen waren rosa, schwarz-weiß gestreift und dunkelgrün. Aber sie blieben ganz klein, nur eine einzige von jeder Farbe wuchs heran und wurde dicker und dicker. Dann platzten die Fruchtschalen auf, und heraus kam eine rosa, eine schwarz-weiß gestreifte und eine dunkelgrüne … Brille. Als die kleine Oma wieder ihren Spaziergang machte, sah es aus, als habe der Baum ein Gesicht, und auf einmal hörte sie ein Flüstern: “Such dir eine aus, sie gehört Dir!” “Nanu, dachte sie, “der Baum kann sprechen.” Sie pflückte die rosa Brille ab, und im gleichen Moment schrumpelten die beiden andern und fielen zu Erde. Sie setzte die Brille auf, und kam sich richtig schick mit ihr vor.
Als, zu Hause angekommen, gerade der Briefträger kam, grüßte der freundlich: “Guten Tag Frau Nolte, ich habe eine Postkarte für Sie.” Aber weiter sah sie wie vor einem Fernsehschirm : “Huch Mensch, was für eine Schinderei bei dieser Hitze, müssen die Menschen denn nur immer ihre dussligen Karten schreiben, doch nur um anzugeben, wohin sie alles verreist waren, und unsereiner hat die Plackerei.”
Und als sie etwas später zum Bäcker ging, um zwei Brötchen zu kaufen geschah es wieder, sie sah der Verkäuferin hinter die Stirn: “Na, eigentlich könnt ich der doch die Brötchen von gestern andrehen, die Alte kann ja doch nicht mehr beißen.”
Laut sagte sie: “Tach Frau Nolte, geht’s gut, wünsche Ihnen einen schönen Abend.” Aber wie verwundert war sie, als die kleine Oma energisch forderte: “Nee, mein liebes Fräulein, das sind alte, geben sie mir mal lieber von den frischen.” Sie dachte: “Nanu, kann die hellsehen?”
Doch schon bald legte Amanda die rosa Brille beiseite. Sie wollte es gar nicht wissen, wie viel Lüge, Betrug und dummes Geschwätz hinter den Stirnen anderer Leute hauste.
Im nächsten Frühjahr trug der Baum wieder drei Brillenfrüchte, und diesmal nahm die kleine Oma die schwarz-weiß gestreifte. Und als sie hindurch schaute, konnte sie die Gedanken der Tiere lesen. “Wau, wau, immer dieses blöde Schappi, warum bekomm ich nicht einen richtigen Knochen? Und die dämliche Baderei mit Hundechampoon, als ob man diesen Gestank aushalten könne, da muß man sich doch schnell in einem frischen Haufen wälzen, damit man wieder wie ein richtiger Hund riecht. Wau, wau.” Oh je, das war der liebevoll gepflegte Cocker ihrer Nachbarin gewesen.
Und dann bekam sie ein wütendes Gezänk zwischen einem Spatz und einer Meise mit, die um einen Regenwurm stritten und unflätig kreischten:
“Hau ab, das ist meiner!” “Nein, meiner!” Kreisch, zirp! “Was bildest Du Dir ein, biste nen Adler?” “Nee, Du nen Blödmann”. Und so ging es wütend weiter. Und dann … hatte sich der Wurm verkrochen.
Auch die schwarzweiße Brille legte Amanda sehr schnell weg. Es waren zu viele Stimmen, Wünsche. Fragen und Gedanken.
Mit der dunkelgrünen Brille hörte sie die Stimmen der Pflanzen. Die Palme schimpfte, dass sie verdurste, und die Maiglöckchen läuteten. Da nahm die kleine Oma alle drei Brillen und hängte sie wieder an die Platane. Und kaum hatte sie das getan, schrumpelten sie zusammen und verschwanden im Boden. An ihre alte Brille hatte sie ein Kettchen gemacht, damit sie diese nicht wieder verliere.
Der Brillenbaum bekam im nächsten Jahr wieder normale weiße Blüten, und keiner konnte nun mehr die geheimen Gedanken der Menschen, der Tiere und der Blumen lesen. Und das ist auch gut so.
p.s. Die Idee zu dieser Geschichte kam mir, weil ich selbst oft meine Brille verlege. Und einmal habe ich sie doch tatsächlich nach wochenlangem Suchen auf einem Zweig im blühenden Kirschbaum wiedergefunden. Allerdings habe ich weder das Geschwätz meiner Geranien gehört, noch konnte ich die Streiterei der Meisen am Futterhäuschen übersetzen. Laut und deutlich war allerdings die Stimme meiner Kinder: “Ach Mama, du wirst auch immer schussliger.” Wenigstens haben sie nicht “dussliger” gesagt. Aber was solls, ich bin eben auch ‘ne alte Oma.
ich finde das Märchen dumm weil ich finde es macht kein sinn
ich finde es spannend und habe es für mein Baumtagebuch genommen