Fräulein Krackse. (Bahnhof Kracks)
Das Fräulein Krackse.
Mirabella Krakse wohnt zusammen mit Mama und Oma am Rande der Senne in einem feuerroten Pilzhäuschen. Die drei Damen gehören zur Gattung der Schnipselhexen, die das Zaubern im kleinen Finger haben, sie brauchen nur zu schnipsen. Bei Mirabella allerdings machte es, wenn sie sich bewegte, stets knacks und kracks. Sie hatte sich Gelenke aus Titan einbauen lassen, meinte, sie seien fortschrittlicher und hielten länger. Leider vergaß sie immer, dieselben zu ölen. So wurde sie von allen „Krackse“ gerufen.
Wollten Mutter und Großmutter zum Marktkauf, so schnipsten sie lautlos, und sogleich trabten zwei Besen an, auf denen sie in die Stadt ritten. „Was seid Ihr altmodisch“, lachte Krackse. Sie benutzte zur Fortbewegung nur noch einen Staubsauger und düste – huiii – damit durch die Gegend. Es war viel bequemer als auf einem Besenstiel und 10 x so schnell.
„Es muß sich hier Vieles ändern, die Alten sind ja von gestern, die wissen gar nicht, was los ist heute in der Welt,“ stöhnte Mirabella.
Als erstes schmiß sie Omas schönen, grünen Ohrensessel auf den Sperrmüll und ersetzte ihn durch eine aufblasbaren lila Plastikmulde. Mamas glitzernde Kristallkugel, in der sie Bilder aus der Vergangenheit erscheinen lassen konnte, tauschte sie kurzerhand gegen einen Computer aus und schloß ihn auch gleich ans Internet an. Mama wird sich freuen, ist doch ein viel klareres Bild.
Aber die Hexenmutti freute sich überhaupt nicht, denn im ganzen Pilzhäuschen gab es ja gar keinen Strom. Und selbst wenn es welchen gegeben hätte, mit dem modernem Ding konnte sie ja nicht in die Zukunft gucken, und das war den Leuten meist viel wichtiger. Und als sich Oma in den neuen Sessel set-zen wollte, sprang ihr Rabe Robert nach, hackte mit dem Schnabel ein Loch in die Hülle, und ….Pfffffff !! sackt das ganze Mostrum in sich zusammen. Zum Glück konnte der gute, alte Sessel gerettet werden.
Krackse war gekränkt. Voller Zorn setzte sie sich auf ihren Staubsauger und drehte ein paar Runden um die Erde. „Ich bin eine moderne Frau, ich will nicht in dem alten Trott weitermachen. Soll ich etwa wie früher Jungens in langnasige Zwerge verwandeln oder Brüder in Rehe und Prinzen in Frösche? Nein, ich will etwas Großes tun und berühmt werden. Entweder sollen die Menschen mich bejubeln oder verfluchen. Nur, Freude bereiten ist schwer, die Leute kaufen sich ja alles, was sie sich wünschen. Also muß ich sie ärgern. Ich werde ihnen ihr Spielzeug nehmen, ihre Autos, ihre Flugzeuge und vor allem ihre Fernseher. Darüber werden sie sich am meisten grämen.
Krackse knackste vor Begeisterung mit allen 10 Fingern und allen 1o Zehen. Mitten in der Sendung mit der Maus wollte sie sämtliche Bildschirme explodieren lassen, und danach sollten alle Autos auf der Stelle zu Schrott zerbröseln. Dann würde in allen Zeitungen stehen: „Eine kleine Schnipselhexe hat die Welt verändert!“ Gleich nach der Landung sollte die große Zauberei losgehen.
Zwischendurch schaute sie mal auf die Erde. Ach, war das gemütlich. Kleine Kinder spielten mitten auf den Straßen Packen oder Hüpfkästchen, und ein Leierkastenmann drehte die Orgel dazu. Und wie seltsam die gekleidet waren, keines hatte Jeans oder ein T-Shirt an. Wo war sie denn bloß??
Noch immer sauste sie um den Globus. Plötzlich bemerkte sie, dass ihr Staubsauger verschwunden war und sie auf einem kleinen Handfeger hockte. Da, sie trudelte abwärts! Mit einem harten Plumps landete sie, aber wo?? Sie sah sich um. Es gab keine Verkehrschilder, keine Autobahnen und erst recht keine Autos. Die Menschen fuhren in Pferdekutschen oder liefen auf ihren eigenen Beinen herum.
Seit sie ihr Pilzhäuschen verlassen hatte, waren mehr als 100 Jahre zurückgelaufen, man schrieb das Jahr 1888. Sie war verkehrt herum um die Erde gedüst, und hatte so immer mehr Jahre verloren. Tja, wie leicht kann einem, der sich mit Magie befasst, die Zeit durcheinander geraten. Ein Kaiser regierte Deutschland. Es gab noch keine Autos auf der Welt, und Fernseher waren noch nicht erfunden. Man schrieb im Licht der Petroleumlampe lange Briefe statt E-mails und rumpelte die Wäsche mit der Hand sauber. Aber seltsam, die Menschen schienen ganz zufrieden zu sein mit ihrem Leben.
Mirabella fühlte sich auf einmal sehr überflüssig und einsam. Sie wollte nach Hause zu Mama und Oma, aber wen sie auch fragte , keiner kannte sie. Klar, die waren ja noch gar nicht geboren.
Schließlich entdeckte sie vor dem Landgericht einen Wach-meister. Der hatte einen mächtigen Schnauzbart und auf seinem Kopf eine Pickel-haube. „Nun, es heißt doch immer: Die Polizei dein Freund und Helfer“, dachte sie, „also frag ich mal den, ob er eine nette Hexenfamilie kennt, die mich aufnimmt“.
Der freundliche Mann überlegte lange, dann meinte er; „Es gibt in Herzebrock so einen verrückten Bastler, den Carl Miele, der baut Maschinen, die selbst Wäsche waschen, und er will auch Laufräder herstellen, auf denen man fahren kann. Aber in Stuttgart ist da ein gewisser Gottlieb Daimler, der will sogar Wagen bauen, die ohne Pferde fahren. Ich denke mir, das müssten Hexenmeister sein. Mit der Tochter Mercedes könntest du dich sicher gut verstehen, versuchs doch mal.“
Aber Krackse ist weder nach Herzebrock noch nach Stuttgart gekommen. Sie konnte nicht mehr schnipsen, ihre Gelenke waren eingerostet. Und so konnte sie Mercedes auch nicht erzählen, welche Teufelskutschen ihr Vater da am Erfinden war. Und so nahmen die Dinge ihren Lauf.
Mirabella hat den Sohn des netten Wachtmeisters geheiratet ist in die Senne ins Pilzhäuschen gezogen, hat Kinder und Enkel bekommen und sitzt in einem großen, grünen Ohrensessel. Zum Einkaufen nimmt sie den Strohbesen, sie hat ihn abgerichtet, er hört jetzt auf Pfiff, und der Ort, in dem sie wohnt, heißt noch heute Kracks.
p.s. Neuerdings nimmt Mirabella für weitere Reisen die Sennebahn. Sie parkt dann ihren Besen im Bahnhof, der, wie ich heute in der Zeitung las, nun endlich auch einen Platz dafür eingerichtet hat.