Der Örpel. (Fluch am Gentschenfelde.)
Es ist schon lange , lange her, da kannte jeder den Otto. Er wohnte zusammen mit seinem alten Vater in einem Tochterhof unterhalb des großen Gänskenfeldes, wie man die Gänsewiese nannte.
Otto war ein hübsches, junges Mannsbild. Er war zwar begehrt, doch er brachte meist Verdruß, denn er verachtete alles, was nicht seinem Anspruch auf Vollkommenheit entsprach.
Sein Leitspruch war:
Das Hemd hatt’n Fleck, schmeiß es weg,
ein Buch mit’n Knüll, muß auf’n Müll,
die Möhre, die krumm ist, kommt auf’n Mist.
und Mädchen, die nicht schön, könn’ gleich wieder gehn.
Warum, so sagte er, soll ich Schlechtes behalten, wenn ich Gutes haben kann. Und dieser Wahlspruch galt leider auch für seinen Lebenswandel, denn jeglicher Arbeit ging er aus dem Weg, war doch Müßiggang viel angenehmer.
Sein Vater war stets empört gewesen, wenn der Sohn Brot, was zwei Tage alt, einfach wegwarf, oder die Mütze, die in den Dreck gefallen war, dort liegen ließ als Spielzeug für den Hund, und der sie zerriß. Immer wieder mahnte ihn der Vater zu Bescheidenheit und Demut, aber er erntete nur Spott. Doch als der Alte zu seinem Ende gekommen war, herrschte bei Otto nur Freude darüber, diesen lätigen Mahner loszusein, und er trieb sein Leben nun völlig zügellos.
Nicht weit entfernt, am Hasenpatt, hatte eine Witwe ihren Kotten und wohnte dort mit ihrer Tochter Isolde, einer züchtigen Jungfer mit großen blauen Augen und rabenschwarzem Haar. Man nannte sie die “holde Isolde”, denn mit ihrem Liebreiz und ihrer geduldigen Fürsorge in allen Notlagen wurde sie von jedem geliebt und geachtet.
Sie hatte ein großes Herz und dieses schloß auch den wilden Otto mit ein . Doch dieser wollte nichts von ihr wissen. Frauen mit solchen Haaren seien ihm unheimlich, so etwas gäbe es in dieser Gegend nicht. “Du bist eine Zigeunerin,”beschimpfte er sie, “wie kommt es zu deinen angeblichen Wundertaten, von denen die Leute sprechen, das ist Zauberei, warte, man wird dich brennen.” Isolde weinte in ihrem Kämmerlein und dachte: “Der arme, schöne Mann, wenn ich ihm doch helfen könnte.”
Es geschah in der Mittsommernacht. Ein heißer Tag war zu Ende gegangen. Otto kam von einem großen Gelage mit seinen Spießgesellen zurück, der Wein war in Strömen geflossen , und nun erfaßte ihn ein unbändiger Hunger. Die alte Magd lag schon in tiefen Schlummer, da schrie er sie an, sie möge ihm sofort eine Speise servieren. Es waren aber nur ein paar alte Kartoffeln zur Hand, die sie ihm mit Speck und Zwiebeln aufbriet. Doch kaum hatte sie die Schüssel auf de Tisch gestellt, ergriff sie der Trunkene: “Was, diesen Fraß aus schrumpligen, alten Zeug bietest du mir, du dummes Geschöpf, geh mir aus den Augen.” Und mit Schwung warf er das knusprige Mahl ins Feuer.
Als Oskar, sein treuer Hund, nach den herunterfallenen leckeren Häppchen schnappen wollte, verprügelte er ihn und jagte ihn davon. Da schrie die Magd voller Zorn zurück: “Mögest Du doch selbst zu einer Kartoffel werden!”
Dann packte sie ihr Bündel zusammen und verließ fluchtartig das Haus.
Als ihr Schrei verhallt war, hatte die Glocke der Stiftskirche gerade die halbe Stunde vor 12 Uhr geschlagen, und genau dieser Punkt ist am 3o.Juni die magische “wahre Mitternacht”. Und wenn in diesem Augenblick ein Fluch ausgestoßen wird, erfüllt sich dieser.
Und so geschah es. Das Letzte, was Otto hörte, war das krachende Zuschlagen der schweren Eichentür. Dann wurde er plötzlich von einem gewaltigem Zittern erfaßt. Er spürte mit Entsetzen, wie sein Körper schrumpfte und schrumpfte, und nur sein Kopf sich aufblähte und zu einer riesigen, verschrumpelten Kartoffel wurde. Um den schwankenden Körper zu tragen, wuchsen auch seine Füße zu gigantischen Latschen.
Otto war starr vor Schreck, er wurde von einer unsichtbaren Gewalt zu seines Gleichen in den dunklen Kartoffelkeller gezogen. Sein letzter schriller Schrei verhallte im Nichts, dann verstummte er für immer. Er war zu einem Örpel geworden.
Er hockte dort unverändert sieben lange Jahre, immer in der großen Furcht, als Nächster von den Ratten aufgefressen zu werden. Keiner ahnte von seinem Schicksal, es hieß, er seie ausgewandert in die große, weite Welt, um Abenteuer zu erleben und reich zu werden.
Isolde war, als sie zur Morgenandacht gehen wollte, dem verängstigtem, herumstromernden Tier begegnet und nahm es auf. Als sie eine Weile später hörte, daß Otto verschwunden sei, wunderte sie sich, denn ohne seinen Hund, an dem er trotz allem hing, wäre er nicht fortgegangen.
Wieder einmal jährte sich der Tag. an dem Otto verschwunden war. Isolde saß mit Oskar auf dem Gentschenfeld, wo sie junge Löwenzahnblättchen für einen Salat geammelt hatte und dachte an den Verlorenen. “Vielleicht ist er irgedwo einsam und verlassen und braucht Hilfe, aber vielleicht ist er auch irgendwo glücklich und hat mich längst vergessen.” Sie beobachtete ein wildes Wolkenspiel, das sich am Himmel auftat. Da, plötzlich trieben die grauen Fetzen auseinander. ein seltsames Leuchten strahlte herab, und eine leise Stimme erklang:
“Isolde, deine Güte hat vielen Bedrängten wohlgetan. Doch es ist leicht, seinen Freunden zu helfen. Seinen Feinden Gutes zu tun ist sehr schwer.Kannst du das?
Wolle ihn finden.
vom Fluche entbinden,
die Seele winden.
Aber wisse und wäge, du brauchst sehr viel Kraft und Liebe dazu, denn wenn es dir nicht gelingt, den Bann zu brechen, wird sich der Fluch auch an dich ketten, und du mußt auf ewig das gleiche erleiden bis ans Ende aller Tage.
Dann breitete sich eine große Stille aus, und der Himmel war wieder klar ud blau.
Nur langsam löste sich die Starre, die Isolde erfaßt hatte.”Oh weh, ich armes Weib, wie soll ich finden, die Welt ist weit.” Nun ist es aber so, daß zu den Jahrestagen des Fluches eine Aura des Verdammten im All schwebt und auf Erlösung hofft. Oskar wurde unruhig. Leise jaulend schien er Isolde auffordern zu wollen, ihm zu folgen. Er nahm die Witterung auf, und plötzlich standen sie vor dem Haus des Verlorenem. Mit einem Knarren sprang die Haustür von selbst auf, und zielsicher fanden sie den Weg in den Katoffelkeller. Welch Ensetzen !!! Vor sich sahen sie einen großen Sandhaufen, auf dem noch ein paar stark vergammelte Kartfoffeln herumlagen und dazwischen hockte etwas, was früher einmal Otto gewesen war, ein verhextes Geschöpf, ein Örpel !!
Voller Mitleid nahm Isolde das mißgestaltete Gebilde in ihre Hände und ihre Tränen netzten die faulige Schale. Und siehe, die tiefen Furchen glätteten sich , und der Kopf fing an zu schrumpfen. Otto erwachte wie aus einem unendlich langen Schlaf. Er fiel auf die Knie und die Augen flossen ihm über. Er war erlöst.
Isolde und Otto haben zusammen mit ihren Kindern und Enkeln ein langes Leben gehabt. Sie wurden geachtet und geschätzt. Ihre Nachkommen leben noch heute im Umkreis von Bielefeld, und sie sind stolz, den längsten Namen im Adreßbuch zu haben. alle heißen Ottovordemgentschenfelde.
p.s. Aber Bratkartoffeln hat Otto sein Lebtag nie wieder gegessen.