Hänschen, Firlefänzchen . .(Das Wunder der Gauseköte)
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Als Hänschen geboren wurde, kreiste ein Adler über dem Haus. Da weissagte die Amme:
„Einst werden die Flügel seiner Gedanken ihn in alle Höhen tragen, so wie die Schwingen des stolzen Adlers.“
Hänschen wuchs heran. Er hatte einen hellen Verstand. Alles was er sah und hörte saugte er voller Wissensdurst auf, und die Einfälle sprudelten ihm wie Bächlein aus dem Kopf. Und immer hoffte er, dass er mit seinen Ideen jemandem eine Freude mache. So bastelte er für seine Mutter, die – ach so häufig – ihre Brille verlegte, einen „Brillenfinder“. Er wickelte an das Nasenfahrrad eine lange Schnur und machte das Ende an der Küchentüre fest. Nun brauchte sie nur noch der Schnur entlang zu gehen, um das Teil zu finden. Doch ach, was geschah? … Die arme Frau verhedderte sich beim Herumwirtschaften in den Stuben so sehr, dass sie am Ende unentwirrbar an der Tür gefesselt war wie ein weißer Mann am Marterpfahl. Und sie schimpfte: „So ein Firlefanz!
Als an den Rosenstöcken im Garten die Blüten verwelkt waren, behängte er sie über und über mit Weihnachtsschmuck und meinte, es sehe doch traurig aus, wenn sie so kahl herumständen. Doch ach…. was geschah? Ein Herbststurm fegte heran, und von all den glitzernden Kugeln blieben nur Scherben. „So ein Firlefanz!“ polterte nun auch der Vater.
Dann bastelte er an Emmas Hundekörbchen eine Taschenlampe und versuchte ihr beizubringen, den Kippschalter mit der Pfote zu bedienen, damit sie sich im Dunkeln nicht fürchten solle. Aber Emma war so erschreckt, dass sie sich zwei Tage winselnd unterm Sofa verkroch.
Als schließlich eines Nachmittags die Mutter gerade dem Papagei den Walkmann vom Kopf genommen hatte, ihr Sohn hatte gemeint, der würde dann schneller sprechen lernen, klopfte Hänschens Klassenlehrer an der Tür und wollte sie dringend sprechen.
„Nein, so geht es wirklich nicht weiter“ jammerte er, „der Junge hat nur Firlefanz im Kopf. Heute hat er im Lehrerzimmer Blumen gestreut, wie bei einer Hochzeit. Er hoffte, die Lehrer wären dann in Feststimmung und gäben bessere Noten. Doch ach … was geschah? Die Putzfrau ist darauf ausgerutscht und hat sich den Knöchel verstaucht.“
Hänschen hatte im Nebenzimmer alles mit angehört und dachte bei sich: „O weh, alle nennen mich schon Hänschen-Firlefänzchen, ich kann es keinem Recht machen, ich werde weggehen.“ Er packte sein Säckel und ging über den Oberen Torwall mit Stock und Hut in die weite Welt hinein. Doch er war gar nicht wohlgemut, er war traurig. Er traf so einen machen, der ihn um guten Rat fragte, aber was er auch an Ideen hatte, alles ging am Ende daneben. Er wollte niemanden mehr sehen und ging immer tiefer in den Wald hinein. Da kam er in der Nähe von Berlebeck zu einer wuchtigen Ruine.
Er hörte eine krächzende Stimme: „Du stehst an der Wiege eines großen Geschlechtes. Auf diesem Berg bauten vor 8oo Jahren die Lipper Edelherren eine mächtige Burg, die Falkenburg. Uneinnehmbar trutzte sie jeder Fehde. Der große Welfe Heinrich schmachtete hier im Kerker. Doch 300 Jahre später wurde sie ein Raub der Flammen. Und ich habe Dich auserkoren, zu forschen und Licht in die Vergangenheit zu bringen.
Ich kenne Dich, ich war da-bei als du geboren wurdest, und ich weiß auch von Deinem Kummer. Wenn Dich der Firlefanz verlässt, wirst du großes schaffen können. Drum wende Deine Schritte gen Süden:
Steig über den Johannaberg,
dort erwartet Dich ein Zwerg!“
Und so schritt Hänschen fürbaß auf einer Straße, die Freifrau Pauline aus Steinen der zerstörten Burg bauen ließ. Sie führt zur Scheide der Wasser, deren Weg der einen zur Ems, der andere zur Weser führt. Es ist die geheimnisvoll Gauseköte.
Mühsam kletterte Hänschen den fast 1000 Meter hohen Berg hinauf und stand vor einen uralten Baum. Er legte sich nieder, um etwas zu ruhen.
Da entdeckte er, dass eine winzige Tür im Stamme verborgen war.
Er klopfte an. „Komm herein,“ wisperte eine Stimme. In einem winzigem, runden Stübchen saß ein Zwergenmännlein mit einer dicken Brille. Kaum konnte er über die Bücher-berge hinwegschauen, die um ihn herum lagen. „Ich bin der weise Magister Gause. Ich habe schon auf dich gewartet. Ich sehe, Du bist traurig, aber ich will Dir helfen.“ Der Alte legte seine Greisenhand auf Hänschens Kopf und sagte:
„Du hast viele gute Gedan-ken, aber sie hüpfen wie die Hasen auf dem Felde. Sie sollten marschieren wie Soldaten, in eine Richtung, mit einem Hauptmann voran, der das Kommando hat. Um anderen und dir selbst nicht zu schaden, musst du sehen lernen.“
Und als er gesprochen hatte, schöpfte er einen Krug mit klaren Bergquellnaß und tat mit großer Bedacht hinein: einen Tropfen Vorsicht, einen Tropfen Rücksicht, zwei Tropfen Übersicht und fünf Tropfen Voraussicht. Er schüttelte den Trank gut durch, und achtet genau darauf, dass Hänschen den Becher bis zur Neige leerte. Und kaum hatte dieser den letzt Schluck getan, fiel er in einen tiefen Schlaf.
Als er wieder erwachte, lag er noch immer unter dem dicken alten Baum. Ein Adler zog seine Kreise am Himmel und flog zurücK zur Adlerwarte, wo eine Vorführung gewesen war. Und Hänschen wanderte zur nahen Silbermühle, denn er hatte Hunger.
Er schmauste ein großes Katenschinkenbrot, pfiff ein lustiges Liedchen und wanderte heimwärts. Er war nicht mehr traurig, aber seine Gedanken kehrten immer wieder zurück zu der geheimnisvollen Burgruine. Und so kam es, dass er die alten Zeiten studierte, lernte, forschte und Ausgrabungen machte. Bald war er ein bekannter Mann, und keiner nannte ihn mehr Hänschen-Firlefänzchen, nein, jeder sagte:
„Der Hans, der kann’s!“