Die lila Männerchen.
Opa saust schimpfend durch die Wohnung: “Verdammter Mist, wo sind denn nur meine Autoschlüssel? Hast Du die?” “Was soll ich denn damit, ich fahre nicht mit Deinem Auto.” “Herrje, ich muß zum Termin, wo sind die verfluchten Dinger?” Da kommt Onkel Hegemann grinsend herbei: Na, waren mal wieder die lila Männerchen bei Ihnen?”
Ihr kennt die nicht? Sie sind bestimmt auch bei Euch.
Tja, das ist mal wieder eine tolle Geschichte.
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Es war einmal eine Insel, die lag ganz weit weg am anderen Ende der Welt. Seltsame Wesen lebten dort. Die Frauen waren alle purpurrot und die Männer himmelblau. Sie hatten kleine Flügelchen an den Schultern, die sie einklappen konnten, und satt Füßen waren ihnen Rollen gewachsen. Alle 5 Jahre feierten sie ein großes Fest, denn da wurden ihnen die Kinder geboren. Jede Frau bekam einen kleinen Sohn, und der war lila.
Kleine Mädchen waren unbekannt auf der Insel. Sie wurden auch nicht gebraucht, denn die Frauen tauchten nach der Geburt in einen Jungbrunnen, badeten 3 Tage in dem Zauberwasser und waren danach 5 Jahre jünger. Sie blieben also ewig gleichalt. Auch die Männer verjüngten sich von Zeit zu Zeit. Immer wenn ihre Haut etwas nachgedunkelt war, schlüpften sie, wie aus einem alten Overall, aus ihr heraus und glänzten wieder in jugendichem Hellblau.
Gerade waren wieder einmal 5 Jahre vergangen und die Vorbereitungen für das große Fest in vollem Gange. Ehe am Nachmittag die neuen Lilalinge geboren werden würden, mußten die nun 5 jährigen lila Männerchen verabschiedet werden, denn ein längeres Verweilen auf der Insel war ihnen nicht erlaubt. Sie mußten sich in der weiten Welt eine neue Heimat suchen. Ihnen war inzwischen ein sehr langer, schwarzer Bart gewachsen, und feierlich bekam jeder eine Schnalle aus Silber überreicht, denn von nun ab konnten sie sich den Bart wie einen Gürtel um den Bauch schnallen und sich auf diese Weise unsichtbar machen. Die lila Männerchen umarmten noch einmal ihre Mütter, dann stiegen sie in 5 lila Düsenkähne und fuhren davon.
Wo die 4 anderen gelandet sind, weiß man nicht. Der 5. jedenfalls hatte einen Motorschaden und mußte auf der Erde notlanden und zwar genau im Stausee von Schildesche. So fand dann eines Morgens ein Jogger einen komischen, leeren lila Kahn verlassen am Ufer treibend. Die Männerchen hatten sich erst verwundert umgeschaut, doch sie waren zu müde, um durch die nächtliche Stadt zu rollen und so kuschelten sie sich im hohen Gras unter der Brücke zusammen und schliefen ein. Morgen würden sie entscheiden, ob ihnen Bielefeld gefalle, und man sich hier ansiedeln könne.
Am nächsten Tag wählten sie zwei Männerchen zu ihren Kundschaftern. Es waren die Zwillinge Alpha und Beta, die Söhne der Oberfrau im Heimatland. Fröhlich machten die sich auf den Weg, aber sie kamen gleich in Schwierigkeiten. Auf ihrer Insel hatte es keine Straßen gegeben. Man flog oder rollte so durch die Gegend, wie es einem einfiel, und da es auch keinen dichten Verkehr gab, ging das sehr gut. Kaum waren sie aber hier bis zum Jahnplatz gekommen, griff sie ein Polizist auf und schimpfte: Rollschuhlaufen ist auf den Bürgersteigen verboten,”
und dann setzte er hinzu, “wie seht ihr Bengels denn überhaupt aus, wir haben doch keinen Karneval, schert euch heim, und wascht euch erst mal die Farbe aus dem Gesicht und nehmt die blöden Bärte ab.
Am dritten Tag wollten sie das neue Stadtviertel hinter dem Bahnhof erkunden. Sie waren in Höhe des Isharas, als ihnen eine Schulklasse, die zum Schwimmuntericht wollte, entgegen kam. Alle Schüler hatten wegen des schlechten Wetters gelbe Friesennerze an. Die Männerchen sind nun aber farbenblind, sie können nur rot und blau und lila erkennen. Wenn etwas grün oder gelb ist, sehen sie es nicht. Sie stolpern über alle Sträucher, denken, Wiesen seien große Löcher und Zitronen kleine Glaskugeln. So sahen sie auch die Schüler in ihren Regenhäuten nicht und rollten direkt in sie hinein.
Was gab das für ein Geschrei: “Ihr Spinner, seid ihr blind, was wollt ihr von uns, ihr habt doch wohl ‘nen Knall, uns hier so anzumachen”. Und schon war die schönste Prügelei im Gange. “Seid ihr ‘ne neue Rockerbande mit Euren dusseligen Stiefelrollen” schrie einer, und der nächste: “Stumm sind die Kerle auch noch, haut ab!” Gerade konnte Alpha seinem kleinen Bruder, er war 4 Minuten jünger, noch zurufen: “Schnell, schnall Deinen Bart um!”
Da kam auch schon Fräulein Krisch, die Lehrerin, herbei-geeilt. Auf ihre Frage, was die Kinder denn da für ein Theater veranstalten würden, bekam sie zur Antwort: “Das waren zwei lila Männerchen.” Empört schimpfte sie: “Was soll der Quatsch, ich sehe niemanden, Ihr habt doch hoffentlich keine Pillen genommen.”
Die Männerchen waren so erschrocken, daß sie sich vornahmen, sich ab jetzt tagsüber lieber unsichtbar zu machen. Aber Bielefeld gefiel ihnen, und sie blieben hier.
Am allerschlimmsten aber war etwas ganz anderes.
Hatten sie sich zunächst aus großen, blauen Müllsäcken eine kleine Hütte gebaut, so frohren sie, als es Herbst wurde, ganz jämmerlich und zogen sich in die Menschenwohnungen zurück. Sie kannten aber keine Möbel. Auf ihrer Insel hatte es keine Schwerkraft gegeben. Das heißt: Nichts fällt herunter! Sie brauchten also keine Tische und Schränke. Eine Tasse stellten sie einfach in die Luft, und da blieb sie stehen. Bücher waren nicht in Regalen, sie schwebten da, wo man sie hinordnete. Wollte man sich setzen oder hinlegen, brauchte man weder Stuhl noch Bett, man wickelte sich in eine Decke und schwebte im Raum. Aufräumen mußte man allerdings doch, denn wenn überall ein Kochtopf ein paar Flaschen oder ein Schuh in der Luft herumhing, wäre das doch sehr unpraktisch, man würde sich dauernd Beulen holen. Daß hier auf der Erde die Dinge herunterfallen, konnten die Männerchen nun garnicht lernen.
Immer wieder stellten sie einen Teller in die Luft, bautz, lag er in Scherben auf der Erde, die Stühle fielen um, und sie selber purzelten dazu. Sie verlegten alle Dinge und fanden sie nicht wieder, und so stifteten sie ein rechtes Durcheinander. Die Leute, in deren Wohnungen sie unbemerkt hausten, wunderten sich sehr.
Und dann passierte eines Tages auch noch Folgendes. Schon häufig hatten sich die Männerchen in einem Supermarkt die herrlichen Dinge zum Essen und Schlecken angeschaut, aber sie hatten ja kein Geld, und sie konnten sich auch nicht sehen lassen. Kurz vor Ladenschluß versteckten sie sich also heimlich hinter einer großen Pyramide aus Waschpulvertonnen und ließen sich einschließen, um nachts von den Herrlichkeiten zu kosten. Übermütig hüppften sie von einem Tisch zum anderen. Als sie nun gerade in der Delkatessentruhe saßen und mit Genuß an einer Scheibe Lachs knapperten, wurde es plötzlich einen Moment lang taghell. Sie waren in den Strahl einer Überwachungskamera geraten, wie sie zur Sicherheit gegen Einbrecher in allen 4 Ecken des Supermarktes aufgestellt waren. Als am nächsten Morgen der Filialleiter die Unordnung und das Fehlen einiger Dinge bemerkte, betrachtete er sich sofort die Aufzeichnngen aus der Nacht. Aber er konnte keinerlei Eindringlinge entdecken. Allerdings wunderte er sich, daß das Band einen starken lila Farbstich hatte. Am Abendbrottisch erzählte der Mann im Familienkreis von seiner Beobachtung, und sogleich rief sein Sohn, der bei dem Zusammenstoß am Ishara dabei gewesen war: “Siehste Papa, ich hab doch recht gehabt, es gibt tatsächlich lila Männerchen in Bielefeld !”
Von da an war es klar, wenn etwas geschah, und keiner wußte, wer daran Schuld sei, dann konnten es nur die lila Männerchen gewesen sein. Und so wurde alles ihnen zugeschoben. Waren die Turnschuhe vom Sohn weg, das waren die lila Männerchen gewesen. Fand Vater eine Akte nicht, die lila Männerchen hatten sie verschusselt. Hatte jemand die Tafel Schokolade aufgegessen, ja wer wohl? Die lila Männerchen. Und die waren auch Schuld, wenn Omas Brille mal wieder nicht zu fnden war. Es ist noch heute so. Ihr werdet es selbst merken. Ist etwas unauffindbar, dann waren eben die lila Männerchen bei Euch.