Cl. Dem Schmidten sinne Fru.
Früher pflegte mein Schwiegervater immer zu mir zu sagen: „Määchen, was biste dürre“, während meine Enkel heute meinen: „Oma du bist zu dick.“ Nun ja, in Größe 36 pass ich nicht mehr so ganz.
Mein Schwiegervater hatte viele solche Sprüche. Etwa „Sonntags werden die Gäule nicht angespannt, die müssen in der Woche genug arbeiten.“ Also schon damals ein Tierschützer. Oder: „Vor Johanni geht mir keiner ins tiefe Loch zum Schwimmen.“ (Auch wenn es 30 Grad sein sollten). Aber die schwerwiegenste Aussage war:
„Merke. Eine Braut darf nur so weit entfernt wohnen, wie man sie mit der Kutsche sonntags zum Kaffeetrinken besuchen kann und man abens zum Füttern wieder pünktlich zuhause ist.“ Dies erklärt doch nun eindeutig, warum viele der alteingesessenen Familien über die Jahrhunderte hin verwandt sind. Zum Glück hatte ich ja Großeltern, die nur um die Ecke ihren Hof besaßen, sodaß einer Heirat nichts im Wege stand.
Und nun erzähle ich also von der alten Frau Schmidt, mit der ich natürlich über tausend Ecken auch verwandt bin, eine sehr wundersame Geschichte.
Es war vor so etwa 150 Jahren., da gab es in Clingen einen armen, aber ehrbaren Mädchenschulmeister.
Die schlimme Zeit, in der es nicht einmal Schulbänke gab, die Kinder also wie die Hunde auf der Erde liegen mußten und so wenig lernten, daß kaum einer im Dorfe noch die fürstlichen Verordnungen vorlesen, oder seinen Namen schreiben konnte, waren glücklich vorbei. Auch hatte die Schule wieder Türen. Waren diese doch von den Russen im Kriege herausgerissen und verbrannt worden. Doch die Behausung des Schulmeisters war noch immer sehr ärmlich. Das halbe Dach war abgedeckt und es regnete ihm direkt aufs Bett. Kein Ofen war da, und der Stall war eingefallen. Vor ihm hatte es eine Schulmeisterin gegeben. Die hatte den Mädchen statt der Fibel, Erbsen und Bohnen zum verlesen gegeben und die Größeren hatten der Lehrerin Röcke waschen müsse, was nicht gerade der Gelehrsamkeit diente. So hatte der Herr Schmidt, so hieß der Lehrer, ein recht mühsames Amt. Die Kinder lernten bei Ihm im ersten Jahr die Zahlen. Im zweiten das Buchstabieren, und im vierten den Kathechismus. Doch die Kleinen mußten oft mit auf dem Feld helfen, Rübenziehen, Ährensammeln, Kartoffelnlesen, sodaß für die Schule kaum Zeit war.
Nun hatte der Schulmeister eine liebe Frau. Die grämte sich, daß ihrem Manne die viele Mühe so wenig gelohnet wurde. Hatte er doch die ganze Zeit über fast gar kein Gehalt bezogen, und sein Ansehen war nicht mehr als daß eines Ziegenhirtes.
Eines Abends nun, Winterfrost klirrte, die Frau war auf dem Weg zur Betstunde, da sah sie neben der Kirche einen schönen Jüngling im Schnee liegen und jämmerlich frieren. Er hatte sich sein Bein verrenkt, so daß er sich nicht aus eigener Kraft erheben konnte.
Weil nun die Lehrersfrau nicht nur gutmütig und fromm war, sondern auch ein beherztes , kraftvolles Weib, stützte sie den Verunglückten bis in ihr Haus, wickelte seinen wunden Fuß, gab ihm einen großen Teller Wurstbrühe, es war sogar noch ein Schlenkerwürstchen drin, und bereitete ihm ein Lager. Dann wünschte sie eine gute Nacht und sagte: „Ruf mich, wenn du mich brauchst.“
Am nächsten Morgen war der Fremde verschwunden. Die Lehrersfrau sah nur noch einen weißen Hirsch zum Flattig hin springen, und es war ihr, als höre sie eine Stimme:
„Ruf mich, wenn du mich brauchst!“
Die Jahre vergingen. Wieder einmal hatte man Schmidt um sein Salair betrogen, und die Familie nagte am Hungertuche. Da besann sich die Frau auf den Jüngling und gedachte des Spruches. Um Mitternacht erschien ihr plötzlich der wundersame Hirsch, verwandelte sich in den Jüngling und fragte: „Brauchst du mich? Ich will Dir helfen, so wie du mir geholfen.“ „Ach,“ sprach da die Schmidten, „nicht für mich, für meinen Mann möchte ich bitten. Schenk ihm Würde.“ Und kaum waren drei Monde vergangen, da hatte man den Schmidt zum Stadtrichter ernannt. Wie froh war er, daß er nicht mehr das Halsgericht ausüben mußte. War doch vor garnicht so langer Zeit eine Jungfer aus Wasserthaleben auf dem Galgenberg am Halse aufgehänget, und dem Mörder Lumm der Kopf mit einem Hiebe abgeschlagen worden. Schmidt richtete nur über die kleinen Missetaten. Und hatte ein ruhiges, angenehmes Amt.
Doch seine Frau stachelte nun der Ehrgeiz. Sie wollte, daß ihr Mann der Erste sei im Dorf. Und so erschien ihr nächtens wiederum der Hirsch, und sie drängte: „Gib meinem Mann Macht!“ So ward in Kürze der Schmidt zum Bürgermeister gewählt.Nun hatte ihr Mann Würde und Macht und regierte im Dorf.
Aber er hatte jetzt viele Neider, und das Volk fing an zu murren. Als er dem Korbflechter aus Tannroda die Aufnahme in Clingen verweigert und dem Gänsehirt seinen Kontrakt nicht verlängert, da werden die Stimmen lauter. Als er nun gar wegen der großen Spatzenplage veranlaßte, daß man für jeden abgegebenen Sperlingskopf einen Pfennig bezahle, aus der Gemeindekasse, und sich herausstellt, daß im Stadtsäckel garnichts drin ist, und nur Schulden vorhanden sind, da gibt es einen großen Aufruhr. Der Pöbel rottet sich zusammen und geht vor des Bürgermeisters Haus und schreit:
„Raus muß der Hund, Blut soll es geben!“
Und mit Dreschflegeln und Stöcken sind sie dabei, Türen und Fenster einzuschlagen.
Da rief die Schmidten in ihrer Not wieder nach dem weißen Hirsch. Sie schenkte dem sich Verwandelnden ein kleines Kettchen und der sagte: „Wäge wohl, es ist das letzte Mal, daß ich zu Dir kommen kann.“ Da sagte die Schmidten: „Diesmal schenke mir Mut und Kraft.“ Und kaum hatte sie das ausgesprochen, da trat sie vor die Tür mit einer Axt in der Hand, und sie sagte: “Ihr Hunde, wenn Ihr Euch besaufen wollt, hier ist ein Fass Rum, wenn Ihr mich totschlagen wollt, hier ist eine Axt, also, bedient Euch!“
Da ging ein Gemurmel durch die aufgebrachte Menge, und die erbosten Clingener zogen sich zurück. Der Bürgermeister aber war, noch mit dem Nachthemd bekleidet, aus dem Fenster gesprungen, über den Hof hinter der Mauer her gelaufen, durch die Helbe gewatet und hatte sich bei einem Freund in Sicherheit gebracht.
In den nächsten Tagen wurden die Bücher einer peinlichen Untersuchung unterzogen, und dabei stellte sich heraus, daß alles recht und ordentlich, und der Bürgermeister ein untadeliger Mann war. Er lebte mit seiner Frau in Frieden bis ans Ende seiner Tage, und sein Enkel wurde ein hochgelehrter Pfarrer.
p.s.Vor einiger Zeit nun hat man bei Arbeiten im Steinbruch im Unterflattig einen versteinerten Hirschkopf mit einem prächtigen Geweih gefunden. Am obersten Wirbel aber hing ein goldenes Kettchen.