Jettchens Traum.(Marienstift)
Vor langer Zeit, als die Nacht noch still und schwarz war, und der Tag voller Arbeitslast, als man noch von Hexen das Böse erwartete und von Feen das Gute erhoffte, da lebte in Dorinberg, dem Dornberg, als jüngstes Kind eines Tagelöhners ein kleines Mädchen. Die Eltern hatten ihm den schönen Namen »Henriette« gegeÂÂben. Sie wurde von allen nur »Jettchen« gerufen. Sie spielte mit dem Sohn des Nachbarn, und die Kinderjahre waren eine glückliche Zeit. Doch die Familie war sehr arm, und so kam die Kleine schon mit 12 Jahren als Magd zu einem Heuerlingbauern. Sie mußte schwer arbeiten, der Frau in der Küche und im Stall zur Hand gehen und dem Knecht auf dem Felde. Gelegentlich wurde sie auch zum Meyer gerufen. Hier wurde sie angewiesen, am Bleichhäuschen das LeiÂÂÂÂÂnen zu bewachen, mußte dieses doch 12 Nächte vom Mondlicht beschienen werden, damit das Weiß den rechten bläulichen Schimmer bekomme. Doch man mußte sorgsam darauf achten, daß der Mond die Laken nicht zu lange bescheint, denn sonst können wunderliche ZauÂÂÂÂÂberkräfte wach werden.
Es war an einem schwülen Sommertag. Die Luft flirrte vor Hitze. JettÂÂÂÂÂchen sollte das Korn, das der Knecht mit der Sense gehauen, zu Garben binden. Der Schweiß brannte in ihren Augen, die Hände waren von den Strohseilen wund. Sie pflückte ein paar Kornblumen und verweilte kurze Zeit am Ackerrand. Darob wurde der Knecht sehr zornig und schimpfte sie faul und nichtsnutzig. Als sie dann auch noch in der Nacht die Wache am Bleichhäuschen hatte, dabei vor Erschöpfung einÂÂÂÂÂÂschlief, so daß ein Dieb sich anschleichen und vier große Laken stehlen konnte, wollte der Bauer sie davonjagen.
Da haderte Jettchen mit ihrem Schicksal und dachte:»Ach, könnte ich doch so sein wie der Bauer und mein eigener Herr.« Aber der Bauer war nicht sein eigener Herr. Er lebte zwar in seinem Kotten, bebaute den Acker und konnte beides auch an Kind und Kindeskinder weitergeben, aber er war dem Haupthof, dem Meyer, mit seiner Arbeitskraft verÂÂÂÂÂpflichtet.
»_Also,“ dachte Jettchen»so will ich ein Meyer werden, dann bin ich frei und aller Sorgen ledig.« Aber auch der Meyer war nur Hintersasse des Grundherren und somit diesem Zins und Abgaben schuldig. Sein Besitz zählte zu den allerältesten Lehen der Abtei Herford, die Wala, ein Sohn des frommen Ludwig, gegründet hatte. Und schon hörte Jettchen eine trunkene Stimme:»porcum et ovem!« Es war der Ruf des Eintreibers, des Villicus, der gerade vom Herforder Stift kam, wo man ihn reichlich mit Honig, Brot, Käse und Suker, dem leckeren Kräuterwein, bewirtet hatte. Nun forderte er, wenn es sein mußte, auch mit»Zwing und Zwang«, für den Lehnsherren die Abgaben ein, die anstelle der Pflicht zur Waffenhilfe getreten waren. Es mußten ein Schwein, ein Schaf, fünf Molter Käse, etliche Ellen Leinen und noch manches mehr an die Abtei geliefert werden. Wie geriet der Eintreiber in Zorn und drohte mit StrafÂÂÂÂÂen als er hörte, daß die geforderte Menge an Leinen nicht aufzubringen war: »Ich komme wieder, und wehe, ihr habt nicht alles beisamÂÂÂÂÂmen.“
Voller Angst rief Jettchen: „So will ich Macht haben und eine Äbtissin sein.“
Nacht umhüllte sie. Ein seltsames Rauschen hub an, stürmischer Wind kam auf und peitschte die Wolken. Wie Speere stach der Mond seine bleichen Strahlen auf die Erde. Da blähten sich plötzlich die verbliebenen Laken wie Segel auf und rissen das Mädchen mit in die Höhe. Wie von einem unsichtbaren Geisterschiff wurde sie durch die Lüfte gelenkt. Tief unter ihr versank der Gottesberg. Dann wurde die Fahrt langsamer und Jettchen schwebte über der Pforte des Herforder Stiftes. Was sah sie da für ein Gedränge. Wo war der klösterliche Frieden? Fuhrleute karrten Holzladungen heran und luden sie wahllos irgenwo ab. Schweine rannten quiekend durch den Morast, aufgeregte Mägde kreischten und die Anordnungen der Stiftsdamen, die die Lieferungen beaufsichtigen wollten, gingen im Geschreische und Gerufe, im Singen und Beten des Gewühles unter. Gerade platzte ein Sack voller Erbsen und riß einen Korb mit zwei Groß Eiern mit herab. Augenblicklich stürzte eine Schar Hunde, Hühner, Katzen und Sauen herbei, um sich unter wildem Krakeelen um die Beute zu streiten.
Doch Jettchen war inzwischen im Innenhof gelandet, und man huldigte ihr als neue Äbtissin. Sogleich erschienen zwei Novizen, führten sie zu einer Waage, und vier Stiftsdamen bezeugten ihr Gewicht, auf daß es mit Brot aufgewogen werde. Doch ach, das dürre Mädchen hatte zu wenig Pfunde zu bieten, und der Truchseß, der die höfischen Mahlzeiten überwachte, sah es als seine dringende Aufgabe, diesem Übel abzuhelfen und Jettchen auch an Fasttagen mit reichlich gefüllten Hühnchen und üppigen Eier-speisen zu verwöhnen.
Ihr Stand war höher, als der einer Landesfürstin. Sie konnte über eine aufwendige Hofhaltung verfügen. Neben dem Truchseß gab es einen Mundschenk und einem Marschall. Als major domus stand ein Senneschalk dem Hofstatt vor. Und Jettchen verlangte nun auch noch einen Mohr als Diener und Hofnarr, wie sie es von einer anderen Äbtissin wußte.
In ihrem Herzen keimte der Hochmut. Ihre erste große Reise sollte sie zu ihren Weingütern am Rhein führen, nach Leutesdorf zum Fronhof, der sich über 600 Jahre im Besitz des Klosters Marienfeld befand.
Zunächst allerdings wollte sie Dornberg aufsuchen, wo sie ihre westfälischen Güter zu besichtigen gedachte. Also befahl sie:
»Sattelt zu meinem Schutze 105 Pferde, ich werde mich mit großem Gefolge für drei Nächte bei dem zu Godesberg einquartieren, ehe ich über Kloster Clarholz weiterziehe .Ha, der Meyer muß den ganzen Troß versorgen und mir ein Lager mit einer echten Matratze zur Verfügung stellen. Der Mann wird sich hüten, mich wegzujagen«
Dann kam ihr großer Tag, der Lehnstag. Die Abtei war Reichs- und Papstunmittelbar. Ihre Macht war groß. Sie saß auf einem Thronsessel, über dem sich ein mit Goldtressen besetzter scharlachroter Baldachin wölbte. Einer Krone gleich trug sie auf ihrem Haupte die Mitra, und über ihrer Sutane bedeckte ein pelzverbrämter Umhang ihre Schultern. Vor ihr knieten die junkerlichen Herren, empfingen mit gefalteten Händen die Erneuerung ihrer Lehen und schwuren den Treueid. Darunter die Nobiles: die Grafen von Solms, die Herren von Tecklenburg und der Graf Kerssenbrock. Jettchen fühlte sich schon am Ziel ihrer Träume.
Aber o weh! Es geschah etwas, was später im Stift als „Hunnensturm“ in Erinnerung blieb. Wilde Horden aus Ungarn brachen ein. Sie brandschatzten und verwüsteten das Land, kamen bis nach Herford und richteten große Zerstörungen an. Sie vernichteten und brannten die Abtei nieder. Die Damen flohen in wilder Angst nach Enger und wurden dort heimtückisch ermordet.
Der Äbtissin gar schlug man den Kopf ab.
Es war finstere Nacht und Jettchen frohr:
Sagt, was schützt mich Hermelin.
wenn ich lieg im kalten Grabe?
Sagt, was nützt mir eine Krone,
wenn ich keinen Kopf mehr habe?
Und wieder gab es da das seltsame Rauschen, und es schien, als würden die flatternden Laken zur Ruhe kommen. Der Mond war verblichen und strahlende Sonne erhellte den Tag. Langsam öffnete Jettchen die Augen. Da fing sie an, gar bitterlich zu weinen. Die Tränen flossen über ihre Wangen und tropften bis auf den tiefen Grund. Und wie sie so da saß in ihrem Kummer, da bildete sich zu ihren Füßen ein See, und aus dem kristallklaren Wasser schaute sie ein junges Mädchen an. Es trug einen derben Wollrock ÂÂÂÂÂund ein schlichtes Leinenhemd. Ihre Hand aber umfasste einen Strauß von Kornblumen. Jettchen sah im Wasser ihr Spiegelbild und es durchströmte sie ein warmes Gefühl des Glücks und des Geborgenseins, und eine große Zufriedenheit kam über sie. Die Verlockung,ÂÂÂÂÂ sich ein anderes Ich zu wünschen war dahin. Wußte sie doch jetzt, daß jedem das Seine zuteil wurde. Sie wand die Kornblumen zu einem Kranz und setzte ihn aufs Haar. Da erblühte sie zu einer hübschen JungÂÂÂÂÂfer und die Blumen schmückten sie reicher denn jede Krone. Tapfer diente sie ihrer Herrschaft und verrichtete klaglos die schwere Arbeit.
Auch Hannes war fleißig und bescheiden. Eines Tages hatte er es zu einem eigenen Kotten gebracht. Da steckte er seinem Jettchen einen goldenen Ring an den Finger, und sie waren glücklich bis ans Ende ihrer Tage.
Auf den satten Wiesen rings um den mächtigen, alten Meyerhof zum Gottesberge an der Grenze von Kirchdornberg tummeln sich heute edle Araberpferde. Auf dem kleinen See, an dem Jettchen aus ihrem schreckÂÂÂÂÂÂlichen Traum erwachte, kreist ein stolzer Schwan. Und am Ufer steht, ganz verwunschen und über und über mit Efeu bewachsen, das Häuschen, an demÂÂÂÂÂ vor langer Zeit das Leinen bleichte.
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