Das gelbe Mariechen. (altes Grab in Schildesche)
Da lebte vor über 400 Jahren in Schildesche ein edler Herr, der hatte eine brave Frau und einen kleinen Sohn. Doch als die Frau dem Knaben ein Brüderchen schenken wollte, da starb sie im Kindbett, und das Neugeborene wurde wenige Tage später von einem tückischen Fieber dahingerafft und zu seiner Mutter ins Grab gelegt.
Ob dieses Geschehens war der Gemahl in tiefer Trauer. Nun hielten sich zu dieser Zeit die zwei Brüder Orsini in Westfalen auf und priesen allerorts ihr Land. Da faßte er den Entschluß, seine Heimat zu verlassen, und dort hin zu fliehen.
Er gab seinen Erstgeborenen einer Amme in Pflege und machte sich auf, gen Süden zu reisen. Zu ziehen in das Land der ewigen Sonne, in dem die Bäume aussehen wie aufgespannte oder zusammengeklappte Regenschirme, wo Orangen, Zitronen und Feigen reifen und der rote Wein die Herzen leicht und die Köpfe schwer macht. Ein Land aber auch, in dem man Vögeln die Augen ausstach, weil sie geblendet im Zwange immerzu singen mußten und mit ihrem Gesang andere anlockten, Nachtigallen und Lerchen, denen man dann die kleinen Zünglein ausriß, um sie als Salat zu verspeisen. Ein Land voller Lebenslust und voller Schrecken, voller Üppigkeit und voller Armut.
Und er nahm sich von dort ein neues Weib, schwarhaarig und glutäugig. Und es war wie das Land, wild und geheimnisvoll, zärtlich und grausam. Aber er liebte sie sehr und konnte nicht von ihr lassen. Sie zog mit ihm ins herbe Westfalen, wo zwischen Sümpfen und Wäldern der Frost hauste. Hier gebar die Frau aus dem Süden eine Tochter, und der Edelmann nannte sie “Maria”, denn er wünschte, daß sie gut und fromm werde.
Aber das heiße Blut der Mutter rollte auch in ihren Adern. Das Kind wurde ein ungebärdiges Füllen, das Kapriolen schlug mit Leib und Geist. Als Maria zur Jungfrau herangewachsen war, konnte sie reiten wie der Teufel und fluchen wie ein Pferdeknecht. Sie hatte nur Hohn und Spott für die helläugigen, blonden Menschen des Landes und schimpfte sie “langweilige Gelblinge”. Sie prügelte sich mit den Knappen und zankte mit den Mägden. Nur ihren Vater umschmeichelte sie zärtlich, und der versank in ihren tollkirschenschwarzen Augen.
Darob
Darob erzürnte die Mutter heftig und trieb die Tochter aus dem Haus. Maria wurde zur Vagabundin. Sie zog durch die Lande, schlief in den Wäldern, stahl auf den Äckern und verdrehte den Burschen die Köpfe. Aus Furcht, sie könne den Kleinen Schaden zufügen holten die Bürgersfrauen ihre spielenden Kinder ins Haus, wenn sie Maria in den Nähe wähnten.
Diese hatte sich einen Fuchsschwanz ins Haar gesteckt und trug einen Wams, das sie aus dem Fell eines Keilers gefertigt hatte. Den ganzen Rücken entlang waren noch die Borsten verblieben, und wenn sie sich des nachts im Moos zum Schlafen einrollte, sah sie aus wie ein riesiger Igel, und kein wildes Tier wagte sich an sie heran. Doch wenn sie mit den Herrlein spielte, gewandete sie sich in ein Spinnwebgespinnst und glühte vor Lust. Längst hatten die Leute ihren Namen vergessen und nannten sie nur noch die “Hexe”.
Eines Tages nun kam sie in ein kleines Dorf. Es hatte die gleiche Schildform wie ihr Heimatort. Am Tie, gegenüber der Kirche, stand, beschattet von einer alten Linde, das lange, niedrige Fachwerkhaus der Vogtei. Maria saß am Wegrand. Sie hatte Äpfel gestohlen, die ihr als Mittagsmahl dienen sollten. Da sah sie aus der Kirchtür einen jungen Mann hervortreten hinaus auf den sonnigen Platz. Er war groß und kräftig und hatte blonde Locken. Ein Buch trug er in der Hand. Es war die Bibel, denn er wollte lernen, Gottes Wort zu predigen. Maria sah den Jüngling, und ein wildes Begehren kam über sie. Da trat sie auf ihn zu und reichte ihm einen Apfel, und der Fremde biß lachend hinein. Und sie trieb ihr Spiel mit ihm, und er ließ sie es treiben. Und sie wußte nicht, daß es der Bruder war, und er wußte nicht, daß es die Schwester war. Doch als sie sich nachts verwandelte in diesen schaurigen Igel, erschrak er sehr und fragte sie nach ihrer Herkunft. Sie jedoch hatte ihr Leben vergessen.
Nun berichtete aber der Jüngling dem greisen Vater von seinem Erlebnis, nicht merkend, daß dessen Frau an der Türe lauschte. Diese aber ahnte sofort, wer dieses sonderbare Wesen sei, das man die Hexe nannte. Sie schämte sich ihrer Tochter so sehr, daß sie sie lieber tot wünschte, als sie in Schande zu sehen. So veranstaltete sie ein Festmahl und lud auch Maria dazu ein. Die besten Leckereien wurden auf getragen, und man ergötzte sich an Wildbreet und Früchten, an Bärenschinken und Honig, und es gab auch Krebse und Muscheln, wie man sie im heimischen Johannesbach finden konnte. Doch einige dieser Muscheln waren verdorben.
Diese ließ sie Maria kredenzen, damit sie ihr den Leib zu Tode vergiften mögen. Doch der Bruder betete inbrünstig für das schöne, wilde Mädchen, und als sie zum Sterben krank darniederlag, bettete er sie in seine Arme und ritt mit ihr zu den edlen Frauen ins Stift nach Schildesche, das einst von Mathilde, einer Tochter aus dem Widukindstamm, gegründet worden war. Dort wurde sie pfleglich aufgenommen. Und Gevatter Tod erhörte das Flehen des Jünglings und schickte statt seiner seine Stadthalter den Schmerz, die Schwermut und das Siechtum. Und so wurde über Nacht der Körper der Kranken gelb. Sogar ihr volles, schwarzes Haar wurde dünn, brüchig und hell wie Stroh. Ihre glänzenden dunklen Augen starrten in fahlem Gelb aus dunklen Höhlen. Gelb und häßlich sah sie aus. Und eine lähmende Müdigkeit war über sie gekommen. Vorbei aller Frohsinn, vorbei alle Abenteuer, vorbei das wilde, schöne, böse Leben.
Aber ihr Leiden hatte sie auch demütig gemacht. Und wenn es ihre schwachen Kräfte erlaubten, half sie anderen Kranken im Dorf und pflegte Greise und Kinder. Sie hütete Tiere und tröstete Verzagende. Sie hat weder den alten Vater noch die schöne Mutter oder den braven Bruder je wiedergesehen. Im Stift wurde sie das gute, gelbe Mariechen genannt. Ihr väterliches Erbe hat sie dem Kloster vermacht. Neben der alten gotischen Steinlaterne ließ die Äbtissin davon ein Kapellchen bauen, und als Mariechen es zum erstenmal betrat, erstrahlte das ganze Gemäuer auf einmal in sonnengelber Farbe.Im Stift haben später viele edele Frauen gelebt, rechtschaffene und mißgünstige, doch keine war je wieder so sanftmütig und hilfsbereit wie das gelbe Mariechen.
Es gibt einen alten Gottesacker neben der Stiftskirche. Dort findet man ein einsames Grab, das über und über mit gelben Butterblumen überwuchert ist. Wer sich sehr müht, kann auf dem verwitterten Stein entziffern: Mariechen, gestorben in Frieden 1684.