Das Rettungshaus (heute Johannes-Krankenhaus )
Es war da die alte Frau Schäfer, Minna wurde sie von allen genannt. Zeitlebns hatte sie in einem Kotten am Rande der Schildsker Heide gewohnt, so wie auch schon ihre Großeltern und deren Großeltern, zusammen mit einer Ziege, einem Schwein und einer Schar Hühner.
Der Großvater war Knecht beim Meyer zu Drewer gewesen. Ihr Vater hatte Tischler gelernt und mit seiner kleinen Werkstatt den Lebensunterhalt für die Familie verdient. Minna erinnerte sich gern an das freie Leben in ihrer Kindheit
Mit dem Nachbarssohn Fritz tobte sie über die Wiesen, und besonders spannend war es, wenn Fritz mit der selbstgebastelten Angel versuchte, ein paar Elritzen aus dem Johannisbach zu fischen. Natürlich war das verboten, und der Großvater schimpfte immer und drohte, man würde sie holen. Aber sie haben ihn nur ausgelacht.
Nun war Minna alt und allein. Ihr Mann war verstorben und ihre Kinder weit weg in anderen Städten verheiratet. Es war keine ländlichen Idylle mehr in der Sraße am Johannisbach. Viel gebaut hatte man in den letzten Jahren. Das weiße Feld war dicht besiedelt und statt Pferdewagen über schmale Landstraßen fuhren lange Autoschlagen über breite Straßenkreuzungen, die die Heide durchschnitten. Die Jahre hatten Minnas Rücken gekrümmt, und ihre Füße wollten sie nicht mehr tragen. Die Arbeit im Haus war ihr zu mühsam geworden, und so beschloß sie, sich einen Platz in dem großen Heim für Alte im Johannisstift geben zu lassen. In ihren Kotten war ihre Enkelin mit ihrem Mann und dem Baby eingezogen, die sich freuten, daß ihr Kind nicht im Großstadtrummel aufwachsen mußte. Minna hatte sich ihren Lieblingssessel mit ins Heim genommen und ein kleines Schränkchen, das noch ihr Vater selbst geschreinet hatte. So waren alle ganz zufrieden.
Das Gelände des Johannis-Stiftes ist wie ein winziger Stadtteil für sich. Es gibt kleine alte und große moderne Häuser, Parkplätze, und Wiesen.
Früher gab es auch Scheunen und Ställe, noch heute stehen die Turn-halle, und der Betsaal von damals. Und in neuester Zeit hat man sogar eine Schaukel für Rollstuhlfahrer in den Park gestellt.
Minnas Alltag lief ruhig dahin, doch ihr fehlte die freie Luft und der wei-te Himmel. Es schienen ihr nur Mauern aus Backstein um sie herum. Sie schaute von dem Fenster ihres Zimmers auf ein altes Gebäude, das alle das “Küchenhaus” nannten, aber das sagte ihr nichts.
Vor dem Johannisstift , wo sich noch vor einiger Zeit in trauter Eintracht die Sudbrackbahn, die Straßenbahn und die wenigen Autos die Beckhausstraße teilten, tobte jetzt der Verkehr. Ihr Schlaf war unruhig.
Eines Morgens meint sie , sie sei vom Krähen eines Hahnes aufgeweckt worden. Aber wo sollte es denn hier im Heim Hühner geben. Sie hatte wohl von ihrem alten Zuhause geträumt. Doch dann hört sie eines Nachts plötzlich ein strenge Stimme rufen:
“Minna, wo treibst Du Dich herum. Komm sofort her.” Und schon sieht sie sich, bekleidet mit einem schlichten langen Rock und einer gestärkten weißgrauen Schürze die Treppe hinunter eilen und sich in einen Ringelreihenkreis einordnen. Und wie zum Hohn erklinngt auf einmal der Singsang des Kreises:
“Die Tiroler sind lustig, die Tiroler sind froh,
sie verkaufen ihr Häuschen und schlafen im Stroh.”
Und dann singt sie mit:
“Petersilie Suppenkraut wächst in unserm Garten,
unser Ännchen ist die Braut, soll nicht länger warten.”
Als Minna am nächsten Morgen erwacht, ist sie ganz verwundert, was war das gewesen diese Nacht???
Da erinnerte sie sich plötzlich an ihren Großvater, den sie ausgelacht hatte, als er drohte. Hatte er nicht damals, als er den Dachboden aufräumte, einen Stapel alter Zeitungen von 1852 gefunden, und da stand, was zu der Zeit mit unartigen Kindern geschah.
“Ja”, hatte der Großvater gemeint, “es waren schwere Zeiten damals.
Die meistern Leineweber hatten ihre Arbeit verloren und fielen in Armut. Ihre Kinder randalierten, klauten sich ihr Essen zusammen und schliefen in Scheunen oder im Gebüsch. Die Bielefelder hatten vom “Grauen Haus” in Hamburg gehört, in dem verwahrloste Kinder aufgenommen wurden und versuchten nun, hier eine ähnliche Einrichtung zu schaffen.
Doch es fehlte an Geld, man war auf Spenden angewiesen. Ich erinnere mich, daß, als ich ein kleiner Junge war, öfter eine Dame zu uns kam, und Kartoffeln oder Getreide erbettelte, um die Zöglinge ernähren zu können. Vom Grafen gab’s da keinen Zuschuß. Große Anerkennung erntete damals der als Jüngling gestorbene Johann Heinrich Upmeyer zu Belzen. Er vererbte der Gemeinde 1 000 Thaler um das Haus zu bauen. Aber in dieser Anstalt herrschten strenge Sitten. Wenn Ihr damals so verbotene Dinge getan hättet, wäret Ihr bestimmt ins Rettungshaus gesteckt worden.”
Voller Wehmut erinnerte sich Minna an ihre Jugend und an Fritz mit dem sie unzertrennlich gewesen war. Aber nach der Konfirmation war der nach auswärts in die Lehre zu einem Bäcker gekommen. Dann mußte er zum Militär, es kam der Krieg, und sie hat ihn nie wiedergesehen. Es heißt, er sei in Rußland vermißt worden.
Da hörte sie in der nächsten Nacht einen Jungen sprechen: “Weißt du, warum ich so plötzlich weg war? Ich wurde vor Gericht gestellt, ja ja, wegen Waldfrevels, ich sollte wegen Verwahrlosung ins Rettungshaus. Dabei wollte ich doch nur mein neues Messer ausprobieren und Dir eine Freude machen. Zum Glück sagte man, ich habe nicht die “Einsicht in die Tragweite meines Handelns gehabt”. Verstanden habe ich das zwar nicht, aber ich konnte nach Hause gehen. Doch ich habe mich so geschämt, daß ich dann in die andere Stadt gegangen bin.”
Minna wunderte sich, war das ihr Fritz gewesen, das konnte doch nicht sein, der hatte doch 70 Jahre später gelebt.
Und wieder erschien ihr in der nächsten Nacht ein schluchzendes kleines Kind: “Ich habe meiner Mama 20 Heller ais der Tasche genommen. Ich wollte mir so gern eine Bretzel kaufen, bei uns gibt’s doch immer nur Rübenschnitzel zu essen. Aber Mama ist zum Gericht gelaufen und die haben mich hier eingesperrt.”
Und nun wurde es Minna klar, sie war 150 Jahre zurückgekehrt. Ihr Altersheim steht auf den Fundamenten des ehemaligen Rettungshauses. Aus der Hilfe für gestrauchelte Kinder war ein Ort für alte und kranke Menschen geworden.