Der Ratsherr (ein Mann am falschen Platz)
Vor vielen hundert Jahren gab es in Bielefeld den alten Kurz, das war ein sehr dicker Ratsherr. Vor einem Jeden prahlte er mit seiner Weisheit, wollte ihn belehren und bekehren, beschnüffeln und berüffeln. Und so war es kein Wunder, daß alle einen großen Bogen um ihn machten und ihn hinter vorgehaltener Hand den “Ratsfurz” nannten.
Hatten sich, als die Stadt noch in ihren Anfängen war, schon einige jüdische Familien hier angesiedelt. Sie standen unter dem Schutz des Grafen von Ravensberg, dem sie Abgaben zahlten. Später mußten sie den “Judenhut” tragen und einen gelben Fleck auf der Brust. Dann hatten sich verarmte Bauern und Räubergesindel zusammengerottet, nannten sich “Judenschläger” und trugen als Zeichen einen Lederlappen um den Arm. Während der schrecklichen Pestjahre galten die Juden als Schuldige für die Strafe Gottes. Sie wurden in blutigen Aufständen vertrieben, im ganzen Land gab es ein Aufenthaltsverbot, und erst Ende des 16. Jahrhunderts wurde gegen Zahlung von 20 Thalern einzelnen Juden wieder das Wohnen in Bielefeld erlaubt.
Dem Ratsherren Kutz war das nun garnicht Recht. “Das sind alles Halsabschneider und Betrüger. Schaut, was die Geldverleiher für hohe Zinsen nehmen. Und wer nicht rückzahlen kann, kommt in den Schuldenturm.”
Auch Salomon Herzig hatte sich eingekauft und wohnte nun mit seiner Frau in einem Haus in der Burgstraße. Ein Handwerk auszuüben war ihm verboten, also versuchte er als Händler sein Brot zu verdienen.
Er verkaufte Bürsten, Kämme, Körbe und Mausefallen, aber auch Räucherstäbchen und Pomaden für Haare und Bart. Nun wollte er aber seine Waren auch auf dem Markt feilbieten, das war garnicht so einfach. Er mußte “gehänselt” werden. Ursprünglich kam dieser Brauch von der Hanse, die ein Zusammenschluß der Kaufleute war. Er wurde später aber von vielen anderen geschlossenen Gesellschaften aufgenommen, so auch von der Marktgilde. Zunächst bedeutete das Zahlung eines Goldguldens. Dann bestellt ihn der Marktvogt ein, er mußte geloben ehrlich zu sein und Treue zu wahren gegenüber der Gemeinschaft. Im Beisein anderer Markthändler mußte er hochnotpeinliche Fragen beantworten. “Warum bekomme ich keinen Schleifpfaffen?” schrie der Herzig jämmerlich. “Wir sind keine Gilde, bei der der Altgeselle die Prüfung überwacht, das mußte Du schon alleine schaffen,” war die Antwort des Vogtes. Aber am schlimmsten war nach dem Mahl aus Hänselbrot und Salz der Trunk aus Schlick mit Essig und Pfeffer und die üblen Mutproben, die ihm auferlegt wurden. Doch er überstand alles und konnte nun seine Waren am Markt anbieten.
Dem Ratsherren paßte das gar nicht. Ein Jud auf dem Markt!! Und er sann auf Abhilfe. Er warb einen Schergen an mit der Aufgabe, den Herzig streng zu überwachen, ob er nicht gegen Marktrecht verstoße. Nun geschah es, daß zu gleicher Zeit der Küster fetstellte, daß Hostien gestohlen worden waren. Und als nun gar der Scherge bemerkte, daß Herzig für 3 Heller unter dem Tisch an Jünglinge kleine Briefchen verkaufte, lachte Kurz sich ins Fäustchen: “Jetzt hab ich Dich, Du übler Teufel, Du verkaufst den heiligen Leib an Schänder.”
Hieß es doch, die Juden würden nicht nur kleine Christenjungen entführen, weil sie deren Blut für ihr ungesäuertes Brot, die Mazze, bräuchten, sondern sich auch durch Vergehen an Hostien schuldig machen. Und als er dann auch noch einen gellenden Schrei aus dem Haus in der Burgstraße hörte, war er sicher, einem Frevel auf die Spur gekommen zu sein.
Doch als er mit dem Büttel bei Herzig angekommen war, sah er, wie seine Frau gerade Petersilie gehackt und sich dabei in den Finger geschnitten hatte. Wütend mußte der Ratsherr wieder abziehen. Die Briefchen aber, die Herzig so heimlich unter dem Ladentisch verkauft hatte, stellten sich als kleine Liebeszaubersprüche heraus.
Doch dann passierte es.
An einem schönen Sonntagvormittag war er auf dem Weg zum Freudental, um dort mit anderen Ratsherren das beliebte Tarock zu spielen, und zwar mit besondern Trumpf-karten, wie man es dem Mailänder Hof abgeschaut hatte. Er kam in die Burgstraße und wollte von da aus über den Kamm klettern. Auf einmal …. Oh Schreck!!! ergoß sich eine lauwarme, übelriechende Flüssigkeit über ihn. Aus dem ersten Stock hatte einer seinen Nachttopf entleert. “Das war der Jud, das war der Jud, das wird er mir büßen!” brüllte der Begossene.
Doch der Missetäter war nicht Herzig gewesen, sondern ein junger Bursche, der in der Stadt sein Glück machen wollte, und den Herzig großzügig in einem Kämmerchen eine Bleibe gewährt hatte. Dieser hatte allerdings nach der Tat hurtig das Haus durch die Hintertür verklassen und war durch das Kanonenloch über die Kreuzstraße hinweg hoch in den Wald gelaufen. So kam es, daß, als Kurz triefend, stinkend und wütend schreiend, die Treppe hoch zu Herzig gekommen war, nur dieser verdattert im Zimmer stand und immer wieder beteuerte: “Ich war’s nicht Herr, ich war’s nicht!” Doch sein Jammern nützte nichts, seine Unschuldsbekenntnisse wurden nicht geglaubt. Der Ratsherr ließ ihn vom Büttel abholen, und der Richter verurteilte ihn, drei Tage am Pranger zu stehen.
“Recht so” triumphierte der Ratsherr, “Hat der Gauner doch endlich seine gerechte Strafe bekommen.”
Doch dann geschah etwas Seltsames. Als die Bielefelder am nächsten Morgen auf den Marktplatz kamen, sahen sie voller Staunen nicht den Herzig mit der Kette um den Hals, nein, da stand jammend der Ratsherr. Und am Pranger war ein Zettel befestigt auf dem stand:
Horcht, was sich da zugetragen,
als die Glocke 12 geschlagen.
Es ist, Ihr könnt es alle sehn,
ein Wunder wohl hierorts geschehn.
Der Herzig, der hier angebandelt
hat nachts sich in den Furz verwandelt,
Und jetzo wollen alle wissen,
wer hat am Ende wen beschissen?
p.s. die Nachfahren der Familie Herzig haben noch 3 Jahrhunderte als friedliche Bürger in Bielefeld gewohnt, bis sie am 13.12.1941 in einen Eisenbahnwaggon gepfercht wurden und nach Osten fuhren.