Der alte Fuhrmann. (Pferdewechsel im “Blauen Haus”)
Als ich neulich durch die August Bebel-Straße schlenderte, kehrte ich im blauen Haus ein. Der alte Gasthof, gleich hinter der Pauluskirche, war gut besucht, denn es ist bekannt, daß der Wirt einen vorzüglichen Grünkohl anbietet. In der Ecke hinter dem eisernen Ofen saß ein uralter Mann und neben ihm war gerade noch ein Plätzchen frei. Der Mann hatte seine Arme auf dem derben Holztisch aufgestützt, umklammerte einen Bierseidel, den ein verschnörkelter Zinndeckel krönte und schmauchte an einer langen Tabakpfeife. Sehr gesellig wirkte er nicht. Ich grüßte freundlich und hockte mich neben ihn. Der Wirt brachte mir mein Bier, und nun saß auch ich stumm da.
Schließlich wurde das langweilig, und ich sprach den Alten freundlich an: “Ach, Sie sind wohl Stammgast hier?” Schwerfällig hob dieser seinen Kopf, schaute mich mit trüben Augen an, strich sich über seinen Kaiser-Wilhelm-Bart, räusperte sich und meinte: “Stammgast, ja, das bin ich. Ich gehöre zu dem alten Stamm der gütseler Fuhrleute. Draußen steht meine treue Lotte, sie kommt langsam auch in die Jahre.” “Ihre Frau, ja warum holen sie die nicht rein?” “Schwachkopf, mein Pferd natürlich, es steht im Stall, hier ist Pferdewechsel.” Was haben wir beide schon alles erlebt, bis nach Holland und Belgien gingen unsere Fuhren mit dem Planwagen. Die Wege waren schlecht, bei Regen verschlammt mit Löchern und Gräben. Über Bäche gabs keine Brücken. Ich hatte einmal einen Deichselbruch mitten im Wasser. Oh, welcher Schaden.” “Ja und, was haben Sie da gemacht, es gab doch kein technisches Hilswerk oder den ADAC.” “Tja mein Lieber, selbst ist der Mann, was denken Sie denn. Aber wir Fuhrmänner haben immer zusammengehalten und uns auch gegenseitig geholfen, und zuhause trafen wir uns dann in unerer Kutscherkneipe, dem Gasthof Stock.”
Gasthaus Stock, im Hintergrund die Trinitatiskirche.
Ich war verwundert: “Sie sprachen von “Gütsel”, wo ist denn das?”
“Ja du liebe Güte, kennt Ihr denn nicht unser Heidedörfchen Gütersloh?
Der Sand bringt zu wenig Erträge für die Bauern, und deshalb verdienen viele ihr täglich Brot mit dem Fahrgeschäft. Schon 146o berichtet eine alte Urkunde darüber. Wir liegen ja günstig an der Kreuzung der Handelswege nach Westen zum Rhein als auch nach Osten bis nach Warschau sogar. Ich habe zentnerweise Butter und Fleischwaren transportiert aber auch Häute und Lumpen Wer keine Arbeit findet wird Lumpenhändler, es gibt viele davon in Gütersloh.
Weg in Kattenstroth 1910
(Hier steht heute das St.Elisabeth-Hospital )
“Na ja, und wenn wir durch Bielefeld kamen, dann trafen wir uns eben hier in der alten Kaiserstraße. Die feinen Leute logierten allerdings in den “Gasthöfen für gebildete Stände”.
Der Wirt brachte mir ein neues Glas Bier und ich blickte auf den Krug meines Nachbarn. “Wieso haben Sie so einen schönens Bierseidel?” “Nun,” war die Antwort, “hier hat jeder Stammgast seinen eigenen Krug. Die stehen dahinten in Reih und Glied im Regal.” Ich schaute mich um, und tatsächlich reihten sich im Schankraum die prächtigsten Krüge an der Wand. “Und was macht die Trompete daneben?” “Nun, da bläst der Wirt jeden Abend den Zapfenstreich. Das hat er umgedichtet, nicht: Soldaten sollen nach Hause gehen, sondern:
“Die Säufer sollen nach Hause gehen,
und nicht mehr hier am Tresen stehn,
Frau Wirtin hat’s gesagt!”
Ich mußte grinsen, hier schien wirklich eine lustige Gesellschaft getagt zu haben. Aber mein Gegenüber machte nach wie vor einen sehr gedrückten Eindruck. Auf meine vorsichtige Anfrage erwiderte er: “Ich suche meinen Tabakbeutel, ich muß ihn bei meiner letzten Tour im Stall verloren haben, ich kann ihn nicht finden.” Ich war etwas verwundert, wegen eines verloren Tabakbeutels kann man doch nicht so verzweifelt sein. Da murmelte der Alte weiter: “Meine Frau hat ihn mir zu Weihnachten geschenkt, ich suche ihn schon seit vielen Jahren.” Er wurde fahrig: “Und die verfluchte Eisenbahnlinie, ich wünschte die Schienen würden in der Hölle versacken. Mit unserer ganzen Fuhrmannszunft ist’s vorbei. Was wird aus mir, wo soll ich bleiben?” “Ja sind Sie nicht bei Ihrer Familie?” “Familie, Familie Ha! Meine beiden kleinen Jungen sind während der großen Seuche 1850 innerhalb einer Woche an Diphtherie gestorben. Und als meine arme Frau nach Jahren noch einmal in guter Hoffnung war, starb sie im Kindbett und mit ihr das kleine Mädchen. Ich suche meinen Tabakbeutel!” Mir wurde etwas unheimlich. Da schlug die Glocke der benachbarten Pauluskirche 12 Uhr. Der Platz neben mir war plötzlich leer. Ich fragte den Wirt, wer denn der alte Mann neben mir gewesen sei, der im Stall seinen Tabakbeutel suche. “Welcher Mann” meinte dieser erstaunt, “Sie haben immer allein am Tisch gesessen.”
Wochen später war ich noch einmal in der Gaststätte. Da hörte ich, daß im Pferdestall durch ein Loch in der Ecke ein Marder eingedrungen war. Die Mauer mußte aufgegraben und neu verputzt werden. Und man fand unter der Futterkrippe ein völlig verrottetes Stück Leder mit Resten von Tabak.
Und plötzlich meinte ich, Pferdegetrappel zu hören.
Ich habe sehr über diese Geschichte gestaunt, denn mein Urgroßvater und mein Großvater waren tatsächlich Fuhrleute in „Gütsel“ (Gütersloh). Gütersloh war wirklich eine Hochburg der Fuhrleute.