Der kleine Wassermann (Teich an der Bielsteinstraße)

Über Nacht ist es kalt geworden. und ehe nun alle Gewässer zufrieren, will ich von einem See erzählen, den heute keiner mehr kennt. Wassermann Titel

Wassermann ohne Sibylle

Da, wo heute die Wichernschule und das neue Krankenhaus stehen, war früher ein großer See. In seinem klaren, blauen Wasser schwammen nicht nur Goldfische und Orfen, sondern es tummelten sich auch Gründlinge und Bitterlinge. Rosa- und goldenschimmernde Muscheln lagen am Rande, und Seerosen blühten den ganzen Sommer lang.

Auf dem Grunde des Sees aber wohnte Fridolin, ein kleiner Wassermann. Er war der Sohn einer Meerjungfrau. Diese hatte ihn hier ausgesetzt, denn sie schämte sich seiner, weil er so klein geraten war. Er hatte goldene Haare und nicht grüne, wie die gewöhnlichen Wassermänner. Auch seine Hände waren feingliedrig und lang und hatten keine Schwimmhäute. Über Tag schlief Fridolin in seiner Perlmutthöhle, des Nachts; wenn der Mond hoch am Himmel stand, tauchte er auf, zupfte seine Grasharfe und sang ganz leise dazu traurige Lieder. Traurig war er immer ein bißchen, denn er war sehr allein.

Am linken Ufer des Sees stand das Haus von Sibylle Silberstein. Sie war sehr groß und hatte feuerrote Haare. Als sie nämlich noch ein ganz kleines Baby gewesen war, war ihre Mutter einmal einen Moment unachtsam, und – bautz! Sibylle purzelte in ein Faß mit Rotwein. Zwar wurde sie schnell wieder herausgefischt, aber so sehr die Mutter sie auch schrubbte mit Schmierseife und Öl, ja sogar mit Scheuersand, die Haare blieben für immer rot. Deshalb wurde Sibylle von allen gehänselt. Damit keiner ihren Feuerschopf sehen möge, ging sie bald nur noch auf die Straße, wenn es dunkle Nacht war.
Am Tage zu Hause züchtete sie in vielen Kästen und Töpfen seltene Pflanzen, die ihr prächtig gediehen. Wenn alle ihre Schützlinge versorgt, getopft, beschnitten und gegossen waren, malte sie mit Wasser und Farben bunte Bilder, auf denen immer viele Mänschen zu sehen waren, lustige, betrübte, alte und junge, und sie sprach mit diesen Bildermenschen, so hatte sie ein wenig Gesellschaft.
Wie sie eines Nachts wieder einmal im Vollmond spazieren ging, kam sie am See entlang und hörte den kleinen Wassermann singen. Plötzlich sah sie ihn auch. Er saß auf einem Seerosenblatt und schaute sie mit großen Augen an. Sibylle Silberstein war zu-erst sehr erschrocken, sie hatte ja noch nie einen Wassermann gesehen. Dann dachte sie: Vielleicht habe ich ihn nur gemalt, und wenn ich rede, bleibt er ein stummes Bild. ” Guten Abend”, sagte “sie, und “Guten Abend” kam die Antwort. Er spricht mit mir, also ist er wirklich da. Nun schauten sich beide verwundert an. “Verspottest du mich gar nicht? ” fragte Sibylle, ” ich bin doch so häßlich mit meinen roten Haaren.” “Nein, deine Haare glänzen wie Kupfer, und du bist wunderschön. Aber ich, ich bin wirklich häßlich, ich habe keine grünen Haare, wie sich das gehört”, flüsterte Fridolin. “Ach, deine sind die allerschönsten, denn sie glänzen wie Gold”, sagte nun wieder Sibylle. Da lächelten sich beide an.
Sie sprachen miteinander die ganze Nacht und waren glücklich. Als der Morgen graute, schenkte Fridolin dem Mädchen eine kleine Schale aus goldgelbem Bernstein. “Damit du an mich denkst.” Dann tauchte er unter.
Beim nächsten Vollmond ging Sibylle wieder zum See. Und richtig, da saß Fridolin und wartete auf sie. Abermals plauderten sie eine ganze Nacht lang, und als die ersten Sonnenstrahlen über die Dächer kletterten, überreichte Fridolin,seiner Freundin eine blutrote Seerose. “Weil du so gut zu den Blumen bist.” Als Sibylle sie in ihren Händen hielt, wurden die Tautropfen darauf zu Diamanten.
Wassermann Seerose 1

Gerade wollte sie wieder in ihr Haus in der Bielsteinstraße huschen, da traf sie die Nachbarin, die früh am Morgen zur Arbeit aufbrach. Diese war ein mißgünstiges, böses Weib. Als sie die wertvolle Seerose sah, schrie sie: ” Wo hast du die gestohlen, du Diebin?” “Ich habe sie nicht gestohlen, sie ist ein Geschenk”, erwiderte Sibylle. “Von wem, sag’ sofort von wem, sonst ruf’ ich die Polizei”, keifte die Nachbarin, aber Sibylle sagte nichts. Voller Neid sann nun die Frau darauf, das Geheimnis zu lüften. Auch sie wollte solche Geschenke.

Zu der Zeit, als sich erneut der Mond rundete, sorgte sich Sibylle gerade um ein Lorbeerbäumchen. Dies verlor alle Blätter und schien zu verdorren. Sie wollte den kleinen Wassermann nun fragen, wie das Pflänzchen zu retten sei. Auch nahm sie noch einen zierlichen Spiegel als Geschenk für Fridolin mit, damit er sich in einsamen Nächten mit seinem Spiegelbild unterhalten könne.
Doch auch die böse Nachbarin hatte mit Ungeduld gewartet. Voller Tücke legte sie heimlich einen tintegetränkten Feudel hinter die Haustürschwelle und folgte, als Sibylle das Haus verlassen hatte, deren Spuren bis hin zum See. In der Hand hatte sie eine lange Stablampe. Gerade hatte Fridolin gesagt: “Wenn das Lorbeerbäumchen wieder grünt, dann wird dir dein sehnlichster Wunsch in Erfüllung gehen”, da blitzte ein schreiend grelles Licht auf. Mit einem Wehlaut verschwand der kleine Wassermann und Sibylle stürzte davon. Die Nachbarin sah nichts als trübes Wasser.

Wassermann Teich 2

Als Sibylle am nächsten Morgen aufwachte, trieb am Lorbeerbäumchen ein junger, grüner Zweig, ihre roten Haare aber waren golden, wie die von Fridolin. Doch als sie aus dem Fenster schaute, erschrak sie sehr. Der See war verschwunden. Ein paar tote Fische lagen noch auf dem ausgetrockneten Boden, und in einer Ecke fand sie zwischen welken Seerosen einen zerbrochenen Spiegel.
Der kleine Wassermann wurde niemals mehr gesehen. Ob er vielleicht in die Stauteiche gewandert ist, oder ob ihn seine Mutter zurückgeholt hat? Er scheint verschollen.
Wenn man, wo einst der See war, in der Erde buddelt, kann man noch heute versteinerte Muscheln finden.
Sibylle aber war jede Nacht auf den Giebel ihres Hauses geklettert, um nach Fridolin Ausschau zu halten, bis sie endlich für immer dort oben sitzen blieb: mit goldenen Haaren, den grünen Lorbeerzweig in der Hand.

Wassermann Giebel bunt

 

 

 

 

 

 

 

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